Lorenz Künneth:"Karlsfeld hat etwas von einer Neuen Welt"

Der Pfarrer verlässt die evangelische Korneliuskirche aus freien Stücken und wechselt nach Laim. Aber nach elf Jahren ist dem 52-Jährigen die bunte Gemeinde doch mehr ans Herz gewachsen als ihm bewusst war

Interview von Gregor Schiegl

Lorenz Künneth war viel unterwegs. In seinen Jugendjahren lebte er viereinhalb Jahre in Genf, ein halbes Jahr war er in Jerusalem, eineinhalb in Portugal, und in Brasilien betreute er sieben Jahre eine lutherische Großgemeinde, bevor er 2006 die Korneliusgemeinde in Karlsfeld übernahm. Diese evangelische Kirchengemeinde ist sehr viel enger mit dem öffentlichen Leben der Gemeinde vernetzt als andernorts üblich. Zum 1. Juni wechselt Künneth auf eigenen Wunsch in die Kirchengemeinde München-Laim, wo bereits sein Vater als Pfarrer gewirkt hat. Viele Gemeindemitglieder sind schockiert.

SZ: Herr Künneth, wie schwer fällt Ihnen der Abschied aus der Korneliusgemeinde?

Lorenz Künneth: Ich hänge noch sehr an Karlsfeld und hinterfrage meine Entscheidung, die eine reine Kopfentscheidung war. Ich merke: Das Herz ist noch nicht nachgekommen.

Woran hängen Sie genau, wenn Sie sagen, Sie hängen an Karlsfeld?

Das ist eine gute Frage, denn objektiv - das merkt man gerade an so einem grauen Tag wie heute - ist Karlsfeld ja nicht wirklich schön, rein optisch. Dass ich mich in Karlsfeld so gefährlich gut eingelebt habe und mich so wahnsinnig wohl fühle, hat mit den Menschen zu tun. Ich bin hier als Pfarrer aufgenommen worden und zwar nicht nur von meiner eigenen Gemeinde, sondern auch darüber hinaus - das habe ich so noch nie erlebt, nirgendwo. Und seitdem sich herumgesprochen hat, dass ich weggehe, ist kein einziger Tag vergangen, an dem mich nicht Leute auf der Straße ansprechen: "Sie gehen weg? Das ist ja entsetzlich! Gefällt es Ihnen nicht mehr?" Die Leute empfinden es fast wie eine Liebesehe, die jetzt von einer Seite aufgekündigt wird, und sagen: "Ja, warum macht er das?"

Lorenz Künneth: Pfarrer Lorenz Künneth schätzt das menschliche Miteinander in der Gemeinde und die Offenheit der Menschen.

Pfarrer Lorenz Künneth schätzt das menschliche Miteinander in der Gemeinde und die Offenheit der Menschen.

(Foto: Toni Heigl)

Ja, warum machen Sie das?

Wenn ich es jetzt nicht tue, kommt das Thema in drei oder fünf Jahren wieder aufs Tapet, und dann habe ich das gleiche Problem wieder; ich entkomme diesem Abschiedsschmerz ja nicht. Und wenn ich, gegen alle kirchlichen Regeln, sagen würde ich bleibe hier bis zu meiner Pensionierung, dann wären es noch 15 Jahre bis ich 67 bin. Aber dann frage ich mich: Wie geht es mir nach 25 Jahren Karlsfeld? Dann sind alle Züge abgefahren. Also muss ich mich fast gewaltsam herausreißen, weil ich sonst nicht weiß, was mit mir passiert.

Von Karlsfeld nach Laim wäre es ja auch nicht zu weit für gelegentliche Besuche.

Wenn es um Freundschaften ginge, die man weiterpflegen möchte, wäre diese Distanz geradewegs lächerlich. Aber diese Freundschaften sind hier gar nicht entstanden. Es geht eher darum, dass hier eine besonders gute Atmosphäre herrscht.

Wie würden Sie die Karlsfelder charakterisieren?

Der Homo Karlsfeldensis ... Das kann ich natürlich nicht wissenschaftlich fundiert beantworten, aber ich finde schon, dass die Karlsfelder sehr offen sind. Das hängt möglicherweise damit zusammen, dass der Ort wenig alte Tradition hat, anders als zum Beispiel das 1200 Jahre alte Dachau. In Karlsfeld sind alle "Zugroaste", angefangen von Schlesiern und Ostpreußen nach '45, über die Gastarbeiter, Griechen, Italiener in den Sechzigern, dann die Aussiedler aus Russland und Siebenbürgen. Karlsfeld hat etwas von einer Neuen Welt. Das ist übrigens die Parallele zu Brasilien: eine Gesellschaft, die seit Jahrzehnten und Jahrhunderten davon lebt, dass ständig neue Einwanderer kommen und wo die Neuankömmlinge sofort mit offenen Armen aufgenommen werden.

Lorenz Künneth: Herbert Prigge hilft bei der Reparatur des Kirchturms.

Herbert Prigge hilft bei der Reparatur des Kirchturms.

(Foto: Niels P. Jørgensen)

Haben es Ihnen die Karlsfelder als Neuling auch so leicht gemacht?

Das haben sie wirklich. Natürlich gab es im Vorfeld kritische Stimmen, die gibt es immer: Ist er der Richtige? Und man muss ja sehen, dass mein Vorgänger 20 Jahre lang im Amt war. Der Wechsel war eine Zäsur.

Wir erleben jetzt wieder viel Zuzug in Karlsfeld. Suchen diese Leute auch Anschluss in Kornelius?

Natürlich bekommen wir neue Gemeindemitglieder, es sind viele Familien mit kleinen Kindern, vor allem im Nordwesten haben wir viele Taufen. Es ist aber nicht so, dass die Leute in Scharen zu uns kämen. Aber was ich beobachte, ist: Die "Zugroasten" und die Alteingesessenen des Westens vernetzen sich jetzt auch schon. Da entsteht ein ganz neuer Stadtteil.

Nach den Daten der Gemeinde sind mehr als 10 000 Karlsfelder entweder konfessionslos oder Anhänger nichtchristlicher Religionen. Erst an zweiter Stelle kommen die Katholiken mit etwa 8500 Mitgliedern, dann die Evangelischen mit 2750.

Natürlich sind wir nur eine kleine Minderheit, aber ich glaube, dass die Außenwirkung von Kornelius größer ist als die reine Gemeindemitgliederzahl. Das hängt auch mit dem Gemeindehaus zusammen, wo es viele Veranstaltungen gibt. Bei den Mutter-Kind-Gruppen fragt keiner nach Religion oder Konfession. Zu den Konfessionslosen muss man Folgendes sagen, und das machen sich viele gar nicht bewusst: Wenn ich eine Taufe hier habe, dann ist es fast die Regel, dass die Mutter evangelisch ist und der Vater ausgetreten. Dass mal beide Elternteile evangelisch sind, ist eine Besonderheit, das kommt eigentlich nicht vor. In der Praxis ist es aber sowieso fast eine sekundäre Frage. Wir haben Leute hier, die sind katholisch und kommen regelmäßig in den Gottesdienst, wir haben Leute, die ausgetreten sind und im Gospelchor singen. Was ich damit sagen möchte: Die Statistik ist das eine, die Wirklichkeit das andere.

Lorenz Künneth: Kunst in der Kirche.

Kunst in der Kirche.

(Foto: Niels P. Jørgensen)

Sollten Gemeindemitglieder nicht eigentlich auch Kirchenmitglieder sein?

Mir sagen die Leute oft ganz direkt: Ich bin nur ausgetreten wegen der Kirchensteuer, aber selbstverständlich finde ich es gut, was ihr macht. Und der Witz daran ist, dass ich angesichts der Mieten und der Immobilienkosten die Leute sogar ein stückweit verstehe. Ich frage mich oft, wie Familien im Münchner Raum überleben, und wenn dann ein Elternteil austritt, finde ich das zwar sehr bedauerlich, aber aus ihrer Warte auch irgendwo nachvollziehbar.

Was bedeutet es für Ihre Gottesdienste, wenn sich in Ihrer Kirche verschiedene Menschen mit unterschiedlichen Konzepten von Glauben versammeln?

Bei der Sonntagspredigt sind im Schnitt 80 Leute da; der Gottesdienst ist immer sehr gut besucht. Aber die Kerngemeinde kenne ich ja, und je länger man an einem Ort ist, desto mehr Anregung holt man sich auch für seine Predigten aus Gesprächen, aus Begegnungen. Meine Mutter, die mich hier ab und zu mal gehört hat, hat gesagt: Man merkt, du redest für die Karlsfelder. In deinen Worten kommt es rüber: Du hast diese Leute vor Augen.

Lorenz Künneth: Alle fünf Jahre macht der Kunstkreis hier eine Ausstellung.

Alle fünf Jahre macht der Kunstkreis hier eine Ausstellung.

(Foto: Toni Heigl)

Wie sieht die sonntägliche Praxis aus?

Der Karlsfelder Gottesdienstbesucher will es locker haben in Predigt und Ablauf. Da wird geklatscht und gelacht, und es gibt auch schon mal spontane Bemerkungen. Ich habe das schon so angetroffen, und ich habe es sicherlich noch mal gesteigert, weil ich von Brasilien kommend weiß, dass man Gottesdienste heute nicht mehr wie vor 50 oder 100 Jahren feiern kann.

Die katholische Kirche legt großen Wert auf einen festen liturgischen Rahmen. Braucht man den nicht, um Gläubigen Halt und Orientierung zu geben?

Es geht immer um eine Mischung zwischen festem Ritual, also Planbarkeit des Gottesdienstes - nach einer Stunde soll er doch mal fertig sein - und mobilen Elementen. Es ist wie beim Skifahren mit Berg- und-Tal-Ski: Mit dem einen Ski muss man auf dem Boden bleiben, mit dem anderen kann man wedeln.

Wenn Sie Ihre Laufbahn Revue passieren lassen: Welchen Stellenwert hatte Karlsfeld für Ihren persönlichen Werdegang?

Ich war zur Ausbildung als Vikar in Augsburg, dort habe ich meine ersten Schritte unternommen, aber man hat noch nicht die Freiheit, den Beruf wirklich auszufüllen. Dann kam Brasilien, und Brasilien ist natürlich ein Sonderfall. Trotz aller Umarmung, die in dieser Nation in hervorragender Weise geschieht, war ich dort immer ein Ausländer. Es blieb eine Distanz, bei der ich mir dachte: Haben sie mich wirklich verstanden? Können sie mich überhaupt verstehen, bei allem guten Willen? Ich komme aus einer anderen Welt. Auch in Brasilien konnte ich nicht in dem Maße ich selbst sein wie ich es hier erstmalig sein konnte. Im Grunde ist Karlsfeld der Ort, an dem ich zu einem absoluten Vollblut-Pfarrer geworden bin.

Wie wird das nächste Kapitel in Laim überschrieben sein? Die Vollendung?

Ich gehe nach München-Laim mit dem Vorsatz, für mich dort wieder ein Paradies zu schaffen. Zehn Jahre lang hat es hier so schön funktioniert. Warum sollte es nicht woanders genauso funktionieren?

Warum wollten Sie ausgerechnet in die Gemeinde, in der Ihr Vater gewirkt hat? Schließt sich da für Sie ein Kreis?

Es ist in gewisser Weise meine Ursprungsgemeinde - übrigens auch die meiner Frau. Wir kennen dort nach wie vor viele Leute. Wir haben aber auch mitbekommen, wie dort in den vergangenen zehn Jahren einiges schief gelaufen ist; die Leute sind unzufrieden. Laim ist die zweitgrößte Kirchengemeinde Münchens mit drei ganzen Pfarrstellen und einer halben Diakonenstelle. Da fragt man sich schon: Ist es vielleicht mein Auftrag, auch aus einer moralischen Verpflichtung heraus, zurückzukehren und der Kirche zu helfen?

Wer gibt Ihnen denn letztlich den Auftrag? Die Kirche oder Ihre Gemeinde?

Genau da findet der Konflikt statt, den ich gerade durchleide, denn gleichzeitig sage ich mir: Eigentlich bist a Depp, dass du das machst. Es geht dir doch so gut. Lass es doch einfach so weiterrollen.

Ist Ihre Entscheidung endgültig oder gibt es noch einen Weg zurück?

Ich glaube, der Weggang ist endgültig, aber natürlich bin ich nicht verpflichtet bis zum Ende in Laim zu bleiben.

Hört ein Pfarrer überhaupt jemals auf?

Vom Selbstverständnis der Kirche ist man Pfarrer bis zum letzten Atemzug. Ich würde es so halten wie mein Vorgänger, Pfarrer Biller. Für mich ist es völlig selbstverständlich, dass man auch nach der Pensionierung mithilft, das ist üblich und notwendig, das werde ich auch tun, solange ich fit bin. Aber ich werde sicher nicht mit 85 daher kriechen und sagen: "Ich bin aber der Pfarrer." Da habe ich schon ein anderes Verständnis als mein Vater: Mein Vater ist vor drei Jahren gestorben und hat sich im Talar beerdigen lassen. Das ist für mich nicht nachvollziehbar; die Generation vor mir hat eben noch etwas anders getickt. Für mich gilt: Ich bin hier, und wenn ihr mich braucht, werde ich da sein.

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