Karlsfeld:Kommt zusammen!

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Nach Jahrzehnten des ungebrochenen Wachstums feiert die größte Gemeinde im Landkreis das Richtfest ihres Ortszentrums. Die Diskussion darum hält jedoch an

Von Gregor Schiegl

Es hat in den vergangenen 40 Jahren viele Pläne für eine Ortsmitte in Karlsfeld gegeben. Ein locker bebautes Zentrum mit Gartenstadtcharakter. Ein Riesensupermarkt mit Tankstelle und Parkhochhaus. Ein urban verdichtetes Zentrum mit Wohnen und Handel. Jede dieser Planungen war Produkt ihrer Zeit. Das gilt auch für das Zentrum, das jetzt an der Gartenstraße Gestalt annimmt: Hohe Grundstückspreise, Siedlungsdruck und leere öffentliche Kassen waren die bestimmenden Kräfte, die dieses Ortszentrum formten. Wenn Kritiker behaupten, es sei nichts weiter dabei rausgekommen als ein "Wohngebiet mit Aldi", ist das eine polemische Zuspitzung. Aber nicht grundfalsch. Selbst das Landratsamts äußert Zweifel, ob sich damit noch eine "identitätsstiftende Ortsmitte" verwirklichen lässt.

Viele Bürger taten und tun sich noch immer schwer mit der zweckmäßig dichten Wohnbebauung und der rationalen Architektur des Büros Steidle. "Klötzchenarchitektur" spotteten die einen; die anderen schimpften in Anbetracht des zentralen achtstöckigen Hauses über ein "Klein-Manhattan". Architekt Johann Spengler reagierte in einer Infoversammlung leicht verstimmt und sagte, in Karlsfeld könne man eben nicht bauen wie in Bad Tölz. Die 20 000-Einwohner-Gemeinde Karlsfeld war vor dem Zweiten Weltkrieg ein Straßendorf, in dem weniger als 1000 Menschen lebten. In dem es keinen Bäcker gab und keinen Friseur, nichts, nur ein paar kleine Handwerker und Bauern.

Nach dem Krieg wurde Karlsfeld besiedelt wie der Wilde Westen. Wo Platz war, zogen die Siedler ihre Häuschen hoch. Als in den Sechzigerjahren Tausende Gastarbeiter in den Münchner Norden strömten, musste auch Karlsfeld in kürzester Zeit viel Wohnraum schaffen. Am Ortsrand entstanden die zehngeschossigen Wohnungetüme in Brutalo-Architektur, die sogenannten Schlachtschiffe. Nun war die Siedlungsstruktur nicht mehr nur in der Fläche ein wüstes Durcheinander, auch die Höhenentwicklungen passten hinten und vorne nicht mehr zusammen. Mitten im Ort standen kleine Siedlerhäuschen und Bauernhöfe, am Ortsrand daneben riesige Wohnblöcke und auf Münchner Seite die Großbetriebe MAN und MTU.

Den Stadtplaner vom Büro Topos standen regelrecht die Haare zu Berge angesichts dieses städtebaulichen Durcheinanders. Seit mehr als 40 Jahren versuchen sie aus diesem zusammengeflickten Homunkulus namens Karlsfeld eine Kommune mit halbwegs organischer Anmutung zu schaffen - mit einem lebendigen Herz, das der attraktiven Wohngemeinde ein bisschen öffentliches Leben einhaucht. Die Stadtplaner, die als junge Männer voller Idealismus anfingen, sind heute alte Männer über 70. Über das zentrale Karlsfelder Bauprojekt haben sie schon vor drei Jahren den Stab gebrochen. "Für ein richtiges Herz brauchen Sie einen Marktplatz in der Ortsmitte, einen verkehrsfreien Platz, wo die Leute sich aufhalten", sagte Eckard Steuernagel in einem SZ-Interview. "Was sie jetzt geplant haben, ist bestenfalls ein Herzschrittmacher. Das ist was rein Technisches, aber kein Herz."

Karlsfeld bleibt ein künstliches Wesen. Aber Karlsfelds erstes real existierendes Ortszentrum, dessen Richtfest am Dienstag gefeiert wird, ist nicht das Fundament, sondern allenfalls der Schlussstein einer fehlgeleiteten Ortsentwicklung, die über Jahrzehnte in die Vergangenheit zurückreicht. Weil die Grundbesitzer - vor allem die Bauern - ihre Flächen oft nicht hergeben wollten, wurde die Kirche hier gebaut, das Rathaus dort und das Bürgerhaus - gegen den ausdrücklichen Rat der Stadtplaner von Topos - wieder ganz woanders. Dass die S-Bahnhaltestelle der zweitgrößten Kommune im Landkreis an den Ortsrand gelegt wurde, erscheint bei so viel Widersinn schon fast konsequent. Eine natürliche Mitte gab es in Karlsfeld nie, stattdessen entwickelte sich eine Vielzahl von Subzentren, zum Beispiel das kleine Geschäftsviertel an der Jägerstraße. In der Sprache der Stadtplaner nennt sich das "polyzentrische Struktur". Man könnte auch sagen: ein heilloser Verhau.

Das Büro Topos hat sich daran die Zähne ausgebissen: Das Hauptproblem, damals wie heute, ist die vierspurige Münchner Straße, die Karlsfeld in zwei Teile zerschneidet. Nimmt man die Bahnlinie dazu, die bis zum Bau der Bayernwerkstraße das "drübere Karlsfeld" vom Restort abtrennte, besteht Karlsfeld aus drei Siedlungsinseln; hinzu kommt die Handwerkersiedlung als nördlich vorgelagertes Eiland. Ein städtebaulicher Brückenschlag über die Münchner Straße sollte die beiden großen Gemeindeteile verbinden - mit der Ortsmitte als Brückenkopf. Doch der Gedanke der Vernetzung rückte immer mehr in den Hintergrund.

Das für den Wohnungsbau optimierte Zentrum wirkt wie ein Solitär, weitgehend isoliert von der Umgebung. Die geplante axiale Verbindung der beiden Enden der Rathausstraße zwischen Rathaus und der Kirche Sankt Anna wurde im neuen Konzept durch eine Verschwenkung abgeschwächt, wenn nicht ganz aufgegeben. Dadurch geriet auch die Anbindung des Marktplatzes ins Hintertreffen. Karlsfelds Entwicklung nach der Patchwork-Methode setzt sich fort. Die Probleme, die daraus erwachsen, sind dem Gemeinderat durchaus bewusst. "Der Rathausplatz ist unser großes Sorgenkind", sagt die SPD-Fraktionschefin Hiltraud Schmidt-Kroll. Irgendwie müsse man diese kleine alte Zentrum besser an das neue anbinden. Aus Sicht von Bernd Rath vom Bündnis für Karlsfeld kommt das zu spät: "Der Rathausplatz ist tot und er wird tot bleiben."

Ob das neue Zentrum die erhoffte Magnetwirkung entfaltet, wird sich zeigen. Noch ist es nur eine leere Hülle aus Stahl und Beton. Eine entscheidende Frage wird sein: Kommt neben Aldi, Edeka und der Drogerie Müller auch noch attraktiver kleinteiliger Einzelhandel an die Gartenstraße? Kommt gute Gastronomie? Nehmen die Bürger die als "Investorenplanung" geschmähte Mitte als Treffpunkt an? Vielleicht könnte dann doch noch so etwas wie ein Zentrum daraus werden.

In der Vorgängerplanung der Hamburger Immobiliengesellschaft HIH sollte ins Zentrum auch noch die Volkshochschule, die Gemeindebücherei und ein Ärztehaus. Dieser Ansatz, öffentliche Einrichtungen zu bündeln, löste sich bald auf: Die Mieten wurden der Gemeinde zu teuer und die örtlichen Ärzte ungeduldig, weil mit den Planungen nichts voranging. Sie bauten ihr Ärztehaus schließlich selbst, ein paar hundert Meter weiter an der Münchner Straße. CSU-Gemeinderat Wolfgang Offenbeck nannte die Genese des Karlsfelder Zentrums einmal zutreffend eine "Geschichte der Ernüchterung". Im neuen Konzept ist es nicht einmal mehr gelungen, eine öffentliche Toilette unterzubringen. Die hätte nämlich auch die Gemeinde zahlen müssen. Dafür fehlt das Geld.

Das übergeordnete Ziel, Karlsfeld zu einem Gemeinwesen mit einem starken Zentrum zu etablieren, wurde unter dem zunehmenden Siedlungsdruck faktisch schon vor Jahren aufgegeben. Die Entstehung eines großen neuen Stadtteils westlich der Bahn - in dem bald auch ein Gymnasium stehen könnte - verschob die geografische Mitte der Gemeinde nach Westen und es setzten Fliehkräfte ein, welche die Gemeinde nur schwer unter Kontrolle bekam. Sie musste sogar die Ansiedlung von dringend benötigtem Einzelhandel in dem aufstrebenden Ortsteil unterbinden - weil er so groß dimensioniert war, dass er damit sogar dem eigentlichen Zentrum das Wasser hätte abgraben können.

Vor mehr als 20 Jahren warnten Karlsfelds Stadtplaner von Topos vor der inzwischen längst vollzogenen Ausweisung des mehr als 20 Hektar großen Wohngebiets auf dem alten Eon-Gelände: "Ein Zusammenwachsen der Ortsteile wird damit auf absehbare Zeit verhindert." Tatsächlich waren auf dem Gelände zunächst Handel- und Bürogewerbe geplant. Die Flächen brachte Eon aber nicht los. Ein ähnliches Problem hatten auch die Investoren in der Mitte. Wohnimmobilien gehen dagegen immer - vor allem jetzt, da der Stadt München die Kapazitäten ausgehen - bei ungebrochenem Zuzug. Der Markt zementiert Karlsfelds Identität als Schlafstadt.

Das Richtfest ist trotzdem ein Grund zum Feiern. Es hat in der Geschichte Karlsfelds schon ganz andere, schlechtere Alternativen gegeben. Oder die offene Baugrube, "das Loch", in der auch sehr viel schmerzliche Wahrheit lag über einen Ort, der wohl nie ein normaler Ort sein wird.

© SZ vom 09.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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