Kandidaten für Tassilo-Preis:Gefühlte neun Jahre alt

Warum der Dachauer Sinto-Künstler Alfred Ullrich trotzdem den SZ-Tassilopreis für das Lebenswerk verdient hätte.

Wolfgang Eitler

"Lebenswerk?" Alfred Ullrich ist skeptisch. Will er tatsächlich dafür den SZ-Tassilopreis 2012 bekommen? Zwar ist er 63 Jahre alt und die Liste seiner Kunstausstellungen lang, die ihn nach Venedig, Wien, Berlin und auch in die USA führten. Aber er fühlt sich ziemlich jung. Denn seine Art der Kunst verbindet ihn mit Sinti und Roma, die zwischen 30 und 40 Jahre alt sind, mit Videokünstlerinnen wie Tamara Moyzes aus Bratislava in der Slowakei oder Fotografen wie Niha Nino Pusija, der aus Sarajevo stammt und in Berlin lebt. Alle drei haben eben erst kürzlich im Münchner Gasteig ausgestellt. Sie zählen zu international tätigen Künstlern der Sinti und Roma, die sich mit den Lebensbedingungen ihrer ethnischen Minderheiten, den Ritualen oder tradierten Strukturen der Familien befassen. Sie versuchen das Kunsthandwerk, allgemein die Formensprache ihrer Vorfahren zu erneuern.

Alfred Ullrich überträgt in seinen aktuellen Druckgrafiken, die er in der Berliner Sinti-Galerie "Kai Dihkas" (Ort des Sehens) zeigte, die Klöppeleien und Muster, die seine Mutter noch knüpfte und als fahrende Händlerin verkaufte, in ornamentale Strukturen. Der Titel "Transidentities" passt, weil Ullrich durch seine Ausbildung als Kupferstecher Druckgrafiken für teils berühmte Maler schuf und sich mit den Themen der Abstraktion und der problematischen Grenze zum Dekorativen sehr genau auskennt. Es sind Bilder von mehrschichtiger Tiefendimension und gleichzeitig ungewöhnlicher Leichtigkeit entstanden.

Man kann es auch so sagen: Alfred Ullrichs Schwierigkeiten mit dem Begriff Lebenswerk liegen darin, dass er sich ganz am Anfang und nicht am Ende fühlt. Er spricht von einer "Expedition". Die Bilanz seines Lebens hat vor etwa 15 Jahren mit dem Aufbruch in ein neues begonnen. Wie viele Sinti in Österreich und Deutschland suchte er die stillschweigende Integration. Im Gegensatz zu den Roma bevorzugt diese Minderheit in Mitteleuropa nicht die große Gruppe, sondern die Sesshaftigkeit, wie Erich Schneeberger berichtet, der Vorsitzende des Landesverbands der Sinti und Roma in Bayern. Seine Landsleute pflegten zwar selbstbewusst ihre Kultur und ihre Sprache, aber sie scheuten im Konfliktfall die Konfrontation mit der Mehrheitsgesellschaft. Gleichzeitig bestehen die Ressentiments gegen Sinti und Roma ungebrochen fort, wie eine Reportage von Hilmar Klute in der SZ (Seite 3 vom 24. Mai 2012) zeigt. Zwei von drei Deutschen wollen sie nicht als Nachbarn.

Im Alter von neun Jahren verließ Alfred Ullrich mit seiner Mutter und seinen Schwestern den Wohnwagen an der Donau und wechselte ins kleinbürgerliche Milieu der Wiener Josefsstadt. Es begann die Zeit des Vergessens und auch Verdrängens und eine Hippie-Ära, die ihn schließlich ins Dachauer Hinterland führte. Noch bei einer Kunstausstellung Ende der achtziger Jahre in der Gedenkstätte in Auschwitz stellte er sich als Künstler vor, dessen Verwandte KZ-Häftlinge waren. "Aber ich habe den Zuhörern nicht gesagt, dass wir Sinti sind."

Ein scheinbar nichtiger Anlass änderte seine Einstellung und seinen Blick auf das eigene Werk, die formal wie farblich ausgeklügelten Kupferstiche. Jetzt begann er Videos zu drehen. Er fuhr mit dem Auto zur KZ-Gedenkstätte Dachau und hielt an einem Schild, das wenige hundert Meter davon entfernt die alltägliche Diskriminierung durch Gedankenlosigkeit offenbarte: "Landfahrerplatz - kein Gewerbe." Noch Jahrzehnte nach dem Holocaust hantierten das staatliche Straßenbauamt Freising als zuständige Behörde und die Stadt Dachau mit einem eindeutigen Nazibegriff. Wo und wann immer Ullrich forderte, dieses Schild abzunehmen und gleichzeitig einen menschenwürdigen Campingplatz für Wohnwagen zu schaffen, der wenigstens eine funktionierende Toilette vorweisen kann, stieß er auf Schweigen.

Wurde er zu hartnäckig, wehrten ihn Kommunalpolitiker mit dem Hinweis ab, dass man mit Romani Rose, Sprecher des Dokumentationszentrums für Deutsche Sinti und Roma, gut bekannt sei. Will sagen: Dem Wort eines Sinto aus Biberbach, dazu noch dem einzigen im ganzen Landkreis, fehle es an Gewicht. Übrigens sollte das Dokumentationszentrum Anfang der achtziger Jahre in Dachau entstehen. Nicht einmal durch einen Hungerstreik von Rose und seinen Freunden ließ sich der Dachauer Stadtrat umstimmen. Es bedurfte einer Ausstellung von Alfred Ullrich auf der Biennale 2011 in Venedig, damit jetzt wenigstens das Schild weg ist und eine ordentliche Toilette auf dem Wohnmobilplatz steht.

Also doch ein Lebenswerk? Nach 15 Jahren der Hartnäckigkeit? Und dies allein durch die Macht der Kunst und einiger Schilder zum "Landfahrerplatz" samt lautmalerischer Verzerrungen als Eintrittssignale zuerst in der Dachauer Galerie der Künstlervereinigung Dachau und danach im Pavillon der Sinti und Roma auf der Biennale. Alfred Ullrich schluckt und holt weit aus, wie es ihm eigen ist. Eine Zigarette wird angezündet, und dann erzählt er, dass er sich an einer "Schnittstelle" befindet, an der er den neunjährigen Buben an der Donau, der die Sprache seiner Gemeinschaft noch kann, in sich zurückholt und in die Zukunft übersetzen will. Seine Kunst wie die von Tamara Moyzes, Niha Nino Pusija oder der englischen Kollegin Delaine La Bas will hinein in die Gesellschaft der Sinti und Roma wirken und feste Strukturen aufbrechen, sie öffnen. "Das wird schwierig, das dauert noch Jahrzehnte." Er freut sich schon, dass Sintiza, also die Frauen, beginnen, ihre Rolle in der Familie öffentlich zu überdenken.

Dann fällt das Wort, das aus Ullrichs Sicht der Bilanz eines Lebenswerks entgegensteht. "Ich fühle mich als Aktivist." Aber ist diese Eigenschaft ein Vorrecht der Jugend? Er lacht. Und hält inne. Alfred Ullrich bedauert, dass er nicht früher seinen Weg gefunden hat. Er führt ihn jetzt in Prag, Berlin oder auch Brünn, das über ein eigenes Sinti-Begegnungszentrum verfügt, mit jungen Menschen zusammen. Mit ihnen arbeitet er. Ihnen will er zeigen, welche Möglichkeiten die Kunst für die eigene Reflexion bietet. Er plant Ausstellungen mit ihnen. Die Kunst soll ein neues Selbstbewusstsein vermitteln. Wie ihm - mit 63.

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