Nationalsozialismus: Wie jüdische Fußballer ihren Platz in der Geschichte zurückbekommen

Fanchoreographie vor Anpfiff zum Gedenken des juedischen Bayern Praesidenten Kurt Landauer Fans Fuss

Fans und FC Bayern-Spieler erinnern an den ehemaligen jüdischen Präsidenten Kurt Landauer.

(Foto: Imago)
  • 1933 beschlossen die Nationalsozialisten die Arisierung der deutschen Fußballklubs.
  • Lange Zeit war wenig über das Schicksal der ausgeschlossenen jüdischen Fußballer bekannt.
  • Dann begannen Fans mit der Aufarbeitung.

Von Felix Wendler, Dachau

Am 9. April 1933 treffen in Stuttgart 14 süddeutsche Fußballvereine zusammen. Dazu zählen auch die führenden bayerischen Klubs TSV 1860 München, der 1. FC Nürnberg und der FC Bayern München. Fußball wird an diesem Tag nicht gespielt. Stattdessen beschließen die Vereine, sich "freudig und entschieden" in den Dienst der neuen nationalsozialistischen Regierung zu stellen und "insbesondere in der Frage der Entfernung der Juden aus den Sportvereinen" zu kooperieren.

Es folgt eine zwölfjährige Phase der Verfolgung jüdischer Fußballer, die zuvor in vorderster Reihe an der Entwicklung des deutschen Fußballs beteiligt waren. Nach 1945 dominiert dann fast siebzig Jahre vor allem eines: Vergessen und Verdrängung. Erst mit Beginn des neuen Jahrtausends deutet sich sukzessive eine Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit des deutschen Fußballs an. Vieles, was sich in dieser Hinsicht getan hat, liegt erst wenige Jahre zurück. Eine neue Form der Erinnerungs- und Aufarbeitungskultur im Fußball breitet sich aus.

"Vorauseilenden Gehorsam" nennt Reinhold Baier, Vizepräsident des Bayerischen Fußballverbands (BFV) das, was die süddeutschen Vereine im April 1933 mit der sogenannten Stuttgarter Erklärung beschlossen. Der DFB gab erst knapp zwei Wochen später eine Bekanntmachung heraus, die im Kern feststellte, dass jüdische Funktionäre in den Vereinen nicht mehr tragbar seien. Als im Dezember 1933 die badische Gausportführung mitteilt, dass es den Vereinen selbst überlassen ist, über die "Aufnahme nichtarischer Mitglieder" zu entscheiden, sind viele der jüdischen Mitglieder bereits ausgeschlossen oder selbst ausgetreten.

Einer davon ist Julius Hirsch, mehrmals Meister mit dem Karlsruher FV und verdienter deutscher Ex-Nationalspieler. In seiner Austrittserklärung vom 10. April 1933 schreibt er: "Ich gehöre dem KFV seit dem Jahre 1902 an und habe demselben treu und ehrlich meine schwache Kraft zur Verfügung gestellt. Leider muss ich nun bewegten Herzens meinem lieben KFV meinen Austritt anzeigen." Hirsch verliert seine sportliche Heimat. In den folgenden Jahren überlebt er einen Selbstmordversuch und lässt sich zum Schutz der Familie von seiner evangelischen Frau scheiden. 1943 deportieren die Nazis ihn nach Auschwitz. Dort verliert sich seine Spur.

Dass Landauer im KZ saß, geriet beim FC Bayern zunächst in Vergessenheit

Erst seit ein paar Jahren ist das Schicksal von Julius Hirsch und anderen Fußballern bekannt. Zu verdanken ist dies nicht zuletzt der Arbeit in den Gedenkstätten der ehemaligen Konzentrationslager. Einer, der wesentlich dazu beitrug, ist Klaus Schultz. Der Diakon der evangelischen Versöhnungskirche im KZ Dachau stößt erstmals im Jahr 2003 bei Recherchen für einen Gedenkgottesdienst auf Julius Hirsch, dessen Schicksal vorher weitestgehend unbekannt war. In Dachau gründet sich daraufhin die "Nie wieder!"-Initiative. Aus einem Vorschlag an den DFB entsteht ein alljährlicher Erinnerungstag in den deutschen Stadien. Auch die Idee zum Julius-Hirsch-Preis, mit dem der DFB seit 2005 Verdienste um Toleranz und Menschlichkeit belohnt, kommt aus Dachau.

Ein noch größerer Name des deutschen Fußballs ist Kurt Landauer, mehrmals Präsident der Bayern und sicherlich eine der prägendsten Figuren der Vereinsgeschichte. Lange Zeit aber wussten nur die wenigsten, dass Landauer 1938 im Zuge der Novemberpogrome verhaftet und für vier Wochen im KZ Dachau interniert wurde. Nach seiner Entlassung aus Dachau emigrierte er in die Schweiz. Obwohl vier seiner Geschwister in Konzentrationslagern starben, kehrte er 1947 nach Deutschland zurück. Später spricht Landauer fast nie über Vergangenes. Stattdessen konzentriert er sich darauf, den FC Bayern wieder aufzubauen; verhandelt hart über Genehmigungen und Sportplätze, investiert einen Teil seines Wiedergutmachungsgeldes in den Verein. Als er 1961 stirbt, setzt die Vereinszeitung in der Sterbeanzeige ein Kruzifix über den Namen des jüdischen Vereinspräsidenten. Die Abwesenheit zwischen 1933 und 1947 wird mit "politischen Gründen" erklärt.

Mit dem sportlichen Erfolg der Bayern in den 1960er-Jahren gerät Landauer in Vergessenheit. In seiner Zeit als Spieler der Bayern ist ihm "der Name Landauer nie begegnet", erzählt Karl-Heinz Rummenigge später. Zum 90-jährigen Bestehen bringt der FC Bayern eine Vereinschronik heraus. Landauer widmet man zwei Sätze. Er habe aus "rassenpolitischen Gründen" in die Schweiz emigrieren müssen, heißt es da.

Warum sich 2009 eine Welle des Erinnerns ausbreitet

Es sind zunächst die Fans, die Kurt Landauer seinen angemessenen Platz in der Vereinschronik zurückgeben. 2003, nach einem Zeit-Artikel über den Landauer-Neffen Uri Siegel, beginnt die Münchener Ultragruppierung "Schickeria" zu recherchieren, lädt Historiker zu Lesungen ein, zeigt Filme. Zum 125. Geburtstag von Landauer präsentiert die Südkurve eine beeindruckende Choreografie. Danach greift auch die Vereinsführung die Erinnerung an Kurt Landauer auf. Bei der Gedenkfeier zu Ehren Landauers besucht mit Rummenigge 2009 erstmals ein Vorsitzender des FC Bayern die KZ-Gedenkstätte in Dachau. Von diesem Zeitpunkt an breitet sich eine regelrechte Welle des Erinnerns an Kurt Landauer aus. 2010 erscheint ein preisgekrönter Dokumentarfilm über den ehemaligen Präsidenten. Ein Spielfilm folgt einige Jahre später. 2013 dann die größtmögliche Würdigung: Kurt Landauer wird zum Ehrenpräsidenten ernannt und erhält zwei Jahre später seinen eigenen Platz vor der Allianz-Arena, nachdem zuvor nur eine unbedeutende Straße seinen Namen trug.

Auch der DFB hat lange gebraucht, um sich seiner Vergangenheit zu öffnen. 1972 spielt die deutsche Nationalmannschaft zur Einweihung des neuen Münchner Olympiastadions gegen die Sowjetunion. Sepp Herberger richtet eine Bitte an den DFB, Gottfried Fuchs als Ehrengast einzuladen - jenen Gottfried Fuchs, der 1912 beim legendären 16:0 der Deutschen gegen Russland zehn Tore erzielte. Fuchs muss 1937 wegen seines jüdischen Glaubens aus dem Land flüchten und emigrierte später nach Kanada. Die Nationalsozialisten tilgen im Folgenden seinen Namen aus den Fußballchroniken. Mehr als dreißig Jahre später kann von einer Erinnerungskultur kaum die Rede sein. Der DFB, in dessen Vorstand zu diesem Zeitpunkt noch immer zwei ehemalige NSDAP-Funktionäre sitzen, lehnt die Anfrage ab - man wolle keinen Präzedenzfall schaffen. Der Brief vom März 1972, in dem Herberger von der Absage berichtet, erreicht Fuchs nicht mehr. Er stirbt einen Monat zuvor.

Der FC Bayern hat einen Forschungsauftrag vergeben, um noch mehr über die eigene Geschichte zu erfahren

Erst Anfang des neuen Jahrtausends, die Bewerbung als Ausrichter der WM 2006 läuft, nimmt sich der DFB des Themas an und gibt eine Studie zur Erforschung der eigenen Vergangenheit in Auftrag. Der Historiker Nils Havemann arbeitet eine enge Verstrickung von DFB-Funktionären und NSDAP-Politikern heraus. Die Studie ist eine Zäsur und bringt weitere Untersuchungen in den Verbänden ins Rollen. Innerhalb eines knappen Jahrzehnts wird viel Vernachlässigtes aufgeholt. "Der DFB hat sich dem Thema ganz weit geöffnet", lobt Schultz und hebt besonders die Verdienste des ehemaligen DFB-Präsidenten Theo Zwanziger hervor. Biografien entstehen - über Hirsch, über Landauer und einige weitere. Ausstellungen zum Gedenken jüdischer Spieler und deren Bedeutung für den deutschen Fußball gehen auf Wanderschaft. Der FC Bayern hat einen Forschungsauftrag an das Institut für Zeitgeschichte vergeben, um noch mehr über die eigene Geschichte zu erfahren.

"Die Entwicklung geht immer weiter", erzählt Andreas Wittner, Archivar des FC Bayern. Erst kürzlich sind aus einem Nachlass neue Briefe von Kurt Landauer aufgetaucht, die jetzt im Jüdischen Museum in München ausgestellt werden. Dass selbst bei den bekannten Namen des Fußballs längst nicht alle Lücken geschlossen sind, zeigt, wie viel in der Fußballgeschichte noch aufzuarbeiten ist. Wittner selbst ist dabei einer der aktivsten Vorantreiber. Mehr als 100 Schicksale verfolgter Vereinsmitglieder hat er bereits ausgemacht und viele davon recherchiert. Bei anderen Bundesliga-Vereinen laufen ähnliche Projekte.

Über die unzähligen Mitglieder kleinerer Vereine, die von den Nationalsozialisten verfolgt und ermordet wurden, ist hingegen wenig bekannt. Der BFV hat vor kurzem ein Online-Erinnerungsbuch für verfolgte Fußballer angelegt. Im Rahmen der Vorstellung rief Reinhold Baier alle Vereine auf, die Seiten zu füllen und den jüdischen Mitgliedern ihren Platz in der Fußballgeschichte zurückzugeben.

Rassismus im Fußball ist jedoch weiterhin ein Problem

Die Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart ist schnell gefunden. Erinnerungskultur und der Kampf gegen Rassismus sind eng miteinander verknüpft, erzählt Schultz und zeigt sich angesichts des Engagements vieler Vereine erfreut. Auf der anderen Seite ist Rassismus im Fußball weiterhin ein Problem. Im April 2017, 84 Jahre nach Beginn der Verfolgung jüdischer Sportler, skandieren Fans des Regionalligisten Energie Cottbus beim Spiel gegen den Potsdamer Verein Babelsberg 03 die Parole "Arbeit macht frei, Babelsberg 03" und zeigen den Hitlergruß. Der Verein Babelsberg 03 hingegen engagiert sich aktiv gegen jede Form der Diskriminierung. Ein notwendiges Engagement: In Berlin etwa werden jüdische Amateurfußballer wiederholt Opfer antisemitischer Beleidigungen. Auch 1860 München hat weiterhin mit Neonazis in der Fanszene zu kämpfen.

Solange solche Vorgänge nicht die Regel, aber auch keine Einzelfälle sind, gibt es für den deutschen Fußball noch viel zu tun. Das große Bemühen, sich mit Problemen auseinanderzusetzen, ist deutlich erkennbar. Dazu gehört auch die eigene Vergangenheit. Der deutsche Fußball scheint endlich verstanden zu haben, dass der Blick zurück auch ein Blick nach vorne ist.

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Textes stand fälschlicherweise, dass die Fans des Potsdamer Vereins Babelsberg 03 die Parole "Arbeit macht frei, Babelsberg 03" gerufen und den Hitlergruß gezeigt hätten. Das ist falsch. Die Fans von Energie Cottbus skandierten die Parole.

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