Gewalt gegen Frauen:Den Kreislauf der Angst durchbrechen

216 Fälle von häuslicher Gewalt hat die Polizei im Landkreis Dachau im vergangenen Jahr registriert. In der Öffentlichkeit wird wenig darüber gesprochen. Doch die Zahl derer, die sich helfen lassen wollen, nimmt zu. Sie finden ein weites Netz an Anlaufstellen

Von Yulia Gelis, Dachau

Sie war auf dem Weg, sich aus ihrer Ehe, die für sie Erniedrigung, Prügel und Drohungen bedeutete, zu befreien. Sie verdiente ihr eigenes Geld, ging dreimal in der Woche in einen Deutschkurs. Sie wollte ihr Leben in die Hand nehmen und etwas erreichen. Nachdem das Jugendamt die beiden Kinder in Obhut genommen hatte, wusste sie, dass sie handeln muss. Sie fasste den Entschluss, sich zu trennen. Nur so konnte sie dem Kontrollwahn ihres Mannes, seiner ständigen Eifersucht, seiner Trinkerei und den brutalen Angriffen entkommen. Doch für den Wunsch, einen ganz normalen Alltag zu führen, bezahlte sie mit ihrem Leben.

Der Fall der 43-jährigen Frau, die im Januar in Dachau von ihrem Mann getötet wurde, ist einer von jährlich mehr als 200 Fällen häuslicher Gewalt, welche die Polizei Dachau registriert. Von 216 Fällen 2015 kam es in 173 Fällen zu Körperverletzungen, in den anderen Fällen handelte es sich um sexuelle Nötigung, Bedrohung oder Beleidigung. Die Zahl der Fälle, in denen die Opfer keine Strafanzeige erstatten wollten, könne nicht genannt werden, sagt Polizeihauptkommissar Werner Kretz. Sie wird jedoch als sehr hoch eingeschätzt. Die Zahlen sind stabil, weder Täter noch Opfer lassen sich einer bestimmten Gruppe, Herkunft oder sozialen Schicht zuordnen.

Gewalt gegen Frauen: Das Gewalt in Ehen auch in Dachau ein Thema ist, zeigte 2013 dieses Graffiti an der MD-Papierfabrik. Im Januar wurde eine Frau von ihrem Ehemann getötet.

Das Gewalt in Ehen auch in Dachau ein Thema ist, zeigte 2013 dieses Graffiti an der MD-Papierfabrik. Im Januar wurde eine Frau von ihrem Ehemann getötet.

(Foto: Niels P. Jørgensen)

Eher selten geht ein Fall so aus, wie der einer 35-jährigen Frau aus Dachau. Die zweifache Mutter, die in ihrer 15-jährigen Ehe Schläge, sexuelle Erniedrigungen und Beleidigungen ertragen hatte, griff im August 2015 zur Waffe. Mit einem Messer stach sie sechs Mal auf ihren Mann ein. Danach rief sie den Notarzt, der den Mann rettete. Die Frau wurde im Februar wegen schwerer Körperverletzung zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. Die Arbeitgeberin der Apothekenangestellten übernahm die Anwaltskosten und erklärte solidarisch, sie werde ihr die Stelle bis nach der Haft offenhalten.

Doch dass Opfer der häuslichen Gewalt sich auf diese Weise wehren, kommt eher selten vor. Häufiger setzen die Täter, die gewalttätigen Männer, ihre Drohungen um. Hilfe holen sich die Frauen oft zu spät.

"In unserer Gesellschaft wird das Problem der häuslichen Gewalt tabuisiert", sagt Susanne Frölian, Leiterin der Jugend- und Elternberatung bei Caritas. Selbst von den engsten Angehörigen und Freunden verheimlichen die betroffenen Frauen ihr Schicksal. Sie leiden jahrelang, schweigend und einsam. Sie trauen sich nicht, diesem Horror ein Ende zu bereiten, weil sie sich schämen. Weil sie Angst vor ihrem Mann haben. Weil sie unsicher sind, ob sie es alleine schaffen. Oft erst, wenn die Gewalt zu Todesangst führt, brechen die Frauen ihr Schweigen und suchen professionelle Hilfe. 110 Frauen meldeten sich 2015 bei der Dachauer Interventionsstelle gegen häusliche Gewalt, kurz Distel, von sich aus. Noch einmal 65 Frauen wurden von der Polizei vermittelt. In den vergangenen Jahren meldeten sich kontinuierlich mehr Hilfesuchende, sagt Susann Haak-Georgius, Leiterin der Distel. Vor allem die Zahl der Frauen, die sich von selbst melden, wächst, sagt sie. Noch 2014 wurde die deutliche Mehrheit der Frauen, die in die Beratung kamen, von der Polizei vermittelt; 2015 waren es nur noch 30 Prozent. Auch die 43-Jährige aus Dachau hatte sich Hilfe geholt. So berichten es Freunde von ihr. Vor fünf Jahren, als die Gewaltattacken ihres Mannes unerträglich wurden, flüchtete sie mit den gemeinsamen Kindern ins Frauenhaus. Der Mann wurde in der Psychiatrie in einem Münchner Klinikum behandelt. Danach kehrte sie zu ihm zurück. Um die Familie zu erhalten, der Kinder wegen. Und weil sie seinen Versprechungen glauben wollte, es komme nie wieder vor. Die verurteilte 35-Jährige hatte nie ins Frauenhaus gehen wollen. Vor Gericht sagte sie, sie habe immer gehofft, dass ihr Mann sich irgendwann ändert.

Gewalt gegen Frauen: Ulrich Wamprechtshammer

Ulrich Wamprechtshammer

(Foto: Niels P. Jørgensen)

Ein fataler Fehler, den viele Frauen aus Gutgläubigkeit begehen. Beraterinnen wie Susann Haak-Georgius von der Distel kennen das. Grund ist nicht allein Schwäche oder Gutgläubigkeit, sondern auch eine perfide Form der Gewalt. Haak-Georgius nennt sie psychische oder soziale Gewalt. Eine Form, die neben der körperlichen und sexuellen Gewalt zunehme. Die Täter unterdrücken ihre Opfer verbal, sagen etwa: "Ohne mich bist du nichts wert. Alleine gehst du zugrunde", sie führen der Frau ihre finanzielle Abhängigkeit vor Augen und versuchen, ihr Schuldgefühle einzureden. Von sozialer Gewalt spricht man, wenn ein Täter versucht, jegliche soziale Kontakte der Frau zu unterbinden, egal ob beruflich oder privat. Die Männer verfolgen die Frauen, überwachen sie und kontrollieren ständig. Oft stecken hinter den Aggressionen psychische Erkrankungen, sind Alkohol oder Drogen im Spiel, führen religiös oder kulturell begründetes Herrschaftsdenken zu den Ausbrüchen, auch ritualisierte Verhaltensmuster oder schlicht mangelnde Selbstbeherrschung können Gründe sein.

Eine Trennung scheint also in allen beschriebenen Fällen der einzig sinnvolle Ratschlag und einzig mögliche Ausweg zu sein. Trotzdem: Beratung heißt nicht zwangsläufig Trennung. Frauen, die bei der Distel Hilfe suchen, klären in einem vertraulichen Gespräch mit psychologisch und therapeutisch qualifizierten Beraterinnen ihre möglichen Wege aus der Situation. Gemeinsam wird nach den geeigneten Lösungen gesucht. Das Beratungsspektrum ist breit: Es reicht von konkreten Ratschlägen und der Erarbeitung von Strategien für die Frauen, die mit dem gewalttätigen Mann unter einem Dach leben - und ihn nicht verlassen wollen oder können - , über die Entwicklung eines Sicherheitsplan oder sogar eines geheimen Fluchtplans bis hin zur Wohnungssuche und dem Aufbau einer sozialen Struktur im neuen Umfeld oder an einem anderen Wohnort. Auch in rechtlichen und finanziellen Fragen erhalten die Frauen Unterstützung.

Frauenberatung

Susann Haak-Georgius

(Foto: Niels P. Jørgensen)

Nicht nur mit den Opfern, auch mit den Tätern wird gesprochen. Die Polizei nennt das Gefährderansprache. Sonst hat sie oft wenig Handhabe, außer Platzverweisen und Hausverboten. Anzeigen ziehen Frauen nicht selten zurück. Bei der Distel gibt es eine sogenannte Täterarbeit, Paare können außerdem auch gemeinsam in die Beratungen kommen. Ein spezielles Modell wie die Münchner Infostelle für Männer, die ihre Arbeit mittlerweile auch in Freising anbietet, gibt es in Dachau noch nicht. Die Beratungen bei der Distel, wie auch bei anderen Interventionsstellen, etwa bei der Caritas, sind kostenlos und anonym. Alle Mitarbeiterinnen unterliegen der Schweigepflicht. Die Anlaufstellen bilden ein Netzwerk, um möglichst umfassend helfen zu können. So vermitteln die Beraterinnen in Extremfällen zum Dachauer Frauenhaus. Es bietet den physisch und psychisch misshandelten Frauen sofortigen Schutz an. Fünf Plätze stehen den Frauen und ihren Kindern zur Verfügung. Das Team ist rund um die Uhr über die Telefonnummer 08131/ 514 726 zu erreichen. Die Adresse wird geheim gehalten. Manche bleiben nur eine Nacht im Frauenhaus, um sich aus akuter Gefahr zu bringen, andere sechs bis zwölf Monate, bis sie psychisch und sozial für den Neuanfang stabilisiert sind.

Auch das Jugendamt spielt in dem Netzwerk der Hilfsstellen eine wichtige Rolle. Wie bei den beschriebenen Fällen aus Dachau sind oft Kinder involviert. Sind sie direkt oder indirekt gefährdet, wird das Jugendamt informiert. So wurden im Fall der getöteten 43-Jährigen die Kinder in ein Heim gebracht, um sie nicht den ständigen Ausbrüchen des Vaters gegen die Mutter auszusetzen. Dies ist jedoch die höchste Stufe der Intervention. "Unterstützung geht dem Eingriff vor", sagt Ulrich Wamprechtshammer, langjähriger Leiter des Jugendamts, der erst im März eine andere Aufgabe übernommen hat. Durch die Beratung und Unterstützung der Familienhelfer, Elterntrainer und Erziehungsexperten begleitet das Jugendamt die Familien in schwierigen Situationen bei Bedarf sogar über mehrere Jahre, um so "die schleichende Gefährdungslage" zu entschärfen und dem Eingriff vorzubeugen, erklärt Wamprechtshammer. Bei akuter Gefahr, aber auch, wenn das Wohl des Kindes durch die Erziehungsschwierigkeiten oder die Vernachlässigung der elterlichen Pflicht beeinträchtigt wird, können die Kinder nach dem Gerichtsbeschluss in eine Pflegefamilie oder in eine Jugendeinrichtung gebracht werden.

Jugend und Familienberatung

Susanne Frölian

(Foto: Niels P. Jørgensen)

Ziel einer solchen Inobhutnahme ist die Konfrontation der Eltern mit dem Ernst der Lage. Man erhofft sich davon, die Eltern zu mehr Mitwirkung bei der Lösung der Situation bewegen zu können. Beabsichtigt ist eine so nachhaltige Veränderung der Zustände, dass die Kinder in ihre Familie oder zumindest einem Elternteil zurückkehren können. Somit ist die Inobhutnahme im Falle der häuslichen Gewalt auch ein Signal an die Frauen, sich aus ihrer Situation zu befreien.

Die 43-Jährige aus Dachau hatte bereits Konsequenzen gezogen. An jenem Montag will sie das letzte Mal die gemeinsame Wohnung betreten. Eine letzte Aussprache soll es geben, dann will sie den Schlussstrich ziehen. Doch es kommt zum Streit, der Mann wird handgreiflich, fügt seiner Frau mehrere Stichverletzungen zu. Dann ruft er den Notarzt, die Hilfe kommt zu spät. Der Täter sitzt in Untersuchungshaft.

Oft sind es erst diese extremen Gewalttaten, die das Problem häusliche Gewalt an die Öffentlichkeit bringen. Zuvor schweigen oft nicht nur Opfer, sondern auch Nachbarn, Freunde und Angehörige. Schließlich geht es um ein scheinbar nur privates Problem. Distel-Leiterin Haak-Georgius fordert dazu auf, nicht wegzuschauen, sensibel zu sein, Zeichen zu deuten und aktiv zu werden. "Es sollte keinen Spielraum für männliche Täter geben. Die Frauen sollen ernst genommen werden und die nötige Unterstützung bekommen."

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