Geschichte:Dachaus protestantische Vergangenheit

Der Alte Sitzungssaal des Rathauses diente einst als Betraum. Ein historischer Spaziergang mit Stadtarchivar Andreas Bräunling.

Von Veronika Koeniger, Dachau

Eine Quizfrage: Wie wurde der historische Alte Sitzungssaal des Dachauer Rathauses früher noch genutzt? Als Bierausschank zur Volksfestzeit? Als Tabakloge für Honoratioren? Oder als Betraum für evangelische Christen? Stadtarchivar Andreas Bräunling stellt sich vor den Platz am Sitzungstisch, der für den Oberbürgermeister reserviert ist, und beginnt zu erzählen: von den schwedischen Landsknechten, die im Dreißigjährigen Krieg die ersten Protestanten in Dachau waren, vom Toleranzedikt 1803, welches erst erlaubte, dass der evangelische Glaube im erzkatholischen Bayern gelebt werden durfte. Dann von den Protestanten, die sich ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fest in Dachau ansiedelten. Sie waren meist bildende Künstler, die wegen der Landschaft und dem Moos nach Dachau kamen. Oder sie waren Arbeiter in der damaligen Papier- oder Pulverfabrik.

Von 1892 an durften evangelische Gläubige den Alten Sitzungssaal als Gebetsraum benutzen - vorausgesetzt, sie machten ihn danach sauber. Gespannt hören die 15 Teilnehmer des historischen Altstadtspaziergangs dem Stadtarchivar zu. Bräunling zeigt Kopien historischer Bilder und Aufnahmen. Die Blicke richten sich auch immer wieder hoch zur historischen Kassettendecke, die nach dem aktuellen Stand kunstgeschichtlicher Forschung direkt aus dem Dachauer Schloss stammen soll.

Geschichte: Die Decke des Alten Sitzungssaals im Dachauer Rathaus ist ein kulturhistorisches Dokument. Der Raum auch ein religionshistorisches.

Die Decke des Alten Sitzungssaals im Dachauer Rathaus ist ein kulturhistorisches Dokument. Der Raum auch ein religionshistorisches.

(Foto: Toni Heigl)

Interreligiöse Begegnungen

Der katholische Theologe Peter Heimann hat den "Historischen Spaziergang" des Dachauer Forums, für das er arbeitet, initiiert und als Beitrag zu den "Interkulturellen Wochen" der Stadt Dachau organisiert. Wobei es sich in diesem Fall zunächst um interreligiöse Begegnungen handelt. Aber der Spaziergang verdeutlichte, wie nah noch die Zeit ist, als sich Katholiken und Protestanten gegenseitig auf Abstand hielten und die kulturellen Unterschiede hervorhoben. Das Thema des Spaziergangs lautet: "Die ersten Protestanten in Dachau." Die Auswahl mag für eine Organisation der katholische Erwachsenenbildung ungewöhnlich sein, aber Heimann sagt: "Ich wollte meinem evangelischen Vater etwas liefern zu 500 Jahren Reformation." Und so hat er sich mit seiner "verrückten Idee", wie er sie nennt, an den Stadtarchivar Andreas Bräunling gewandt, der hat ihn "erst ganz komisch angeguckt, dann aber machte er mit". Der Theologe lacht.

Dann geht es hinunter zur ehemaligen MD Papierfabrik. Gegenüber der Fabrik erzählt Andreas Bräunling, wie aus ganz Deutschland Fachkräfte nach Dachau geholt wurden. Unter ihnen viele Protestanten, die in der Papier- und auch in der Pulverfabrik arbeiteten, bis diese 1918 aufgelöst wurde. 6000 Beschäftigte verloren damals ihren Arbeitsplatz, die meisten waren aber schon in der Stadt ansässig geworden und hatten Häuser gebaut. Sie blieben. Unter ihnen waren viele evangelische Gläubige, denen der Rathaussaal schon lange zu klein zum Beten geworden war.

Geschichte: Stadtarchivar Andreas Bräunling führte auf einem historischen Spaziergang zu Stationen der evangelischen Kirche und deren wechselvollen Geschichte.

Stadtarchivar Andreas Bräunling führte auf einem historischen Spaziergang zu Stationen der evangelischen Kirche und deren wechselvollen Geschichte.

(Foto: Toni Heigl)

Hermann Stockmann und Ludwig Dill waren Protestanten

Nächste Station: Frühlingstraße 8. Dort befand sich die erste offizielle Gebetsstätte der Protestanten. 1896 hatte die kleine Gemeinde ein Grundstück erworben. Bis zum Bau der Friedenskirche 1953 trafen sich evangelische Gläubige gegenüber des Bahnhofs, einer von den Spaziergängern erinnert sich: "Ich bin hier konfirmiert worden. Aus Röhrmoos bin ich immer mit dem Rad hergefahren, zum Unterricht und zur Konfirmation selbst." Heiraten konnte er dann aber später schon in der Friedenskirche, der Endstation des Spaziergangs. Der Weg dorthin führt an der Hermann-Stockmann-Villa vorbei. Der Künstler selbst war einer der ersten Protestanten in Dachau, ebenso wie Ludwig Dill, der zu der Neu-Dachau-Gruppe gehörte, welche den legendären Ruf der Stadt als Künstlerkolonie begründete.

Wie sehr die Ökumene selbstverständlich ist und wie wenig selbstverständlich sie war, wurde aus den Gesprächen nach der Führung deutlich. An der Friedenskirche angekommen, begrüßte Pfarrer Thomas Körner die Spaziergänger und lud sie in die Kirche ein. Unter ihnen waren vier Katholiken. Vor 60 Jahren wäre dieser Umstand ein Skandal gewesen. Eine Frau erzählt: "Ich war früher in der katholischen Klosterschule in Dachau, und zum Sport sind wir an dieser evangelischen Kirche vorbeigegangen. Unsere Schwester hat da jedes Mal gesagt: ,Wenn ihr auch nur einen Fuß über die Schwelle setzt, dann ist das eine Todsünde, da kommt ihr in die Hölle!'" Später hat sie ihren evangelischen Mann, der noch in den Gebetsräumen in der Frühlingsstraße konfirmiert worden ist, geheiratet. Glaubensprobleme gab es zwischen ihnen nie, trotzdem sei sie froh, dass es jetzt anders ist und alle viel toleranter sind. Pfarrer Körner wünscht noch mehr Offenheit: "Es ist wichtig, dass wir unsere Wurzeln im Judentum nicht vergessen, denn wir haben sie schon viel zu oft vergessen."

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