Gedenken an Nazi-Opfer:Erinnerung auf Schritt und Tritt

Die Stadt erinnert mit fünf weiteren Stolpersteinen an Dachauer, die von den Nationalsozialisten ermordet wurden, weil sie an Epilepsie litten, mit den Kommunisten sympathisierten oder jüdisch waren. Für die Angehörigen ist die Verlegung ein bewegender Moment

Von Christiane Bracht, Dachau

Er schlurft heran, gebeugt wie ein alter Mann. Auf dem Kopf einen Cowboyhut, in Jeans-Hemd, Arbeitshose, Knieschoner und schweren Arbeitsschuhen. Vom Erscheinungsbild könnte er auch Plattenleger sein. Doch Gunter Demnig ist Künstler. 1993 hatte er die Idee, Stolpersteine zu verlegen für die Opfer der Nationalsozialisten. Seither ist er landauf, landab unterwegs mit seinen messingbeschlagenen Betonwürfeln, auf denen die Namen der Betroffenen und in Eckdaten ihre Geschichte steht. Wie viele Steine er schon einzementiert hat? Er weiß es nicht: "An die 61 000 werden es bald sein", sagt er. Nie hätte er gedacht, dass seine Idee so ein Erfolg wird. In 21 Ländern hat Demnig bereits Steine verlegt, allein im vergangenen Jahr war er 270 Tage in seiner Mission unterwegs. Es ist seine Lebensaufgabe geworden und darauf ist er stolz.

Gedenken an Nazi-Opfer: Gunter Demnig (links) verlegt die Stolpersteine mittlerweile routiniert. Etwa 61 000, so sagt er, hat er weltweit schon in Straßenpflaster versenkt. Nach Dachau kam er das erste Mal 2005 und erneut 2014. Nun erinnern insgesamt 15 Steine an Opfer der Nationalsozialisten.

Gunter Demnig (links) verlegt die Stolpersteine mittlerweile routiniert. Etwa 61 000, so sagt er, hat er weltweit schon in Straßenpflaster versenkt. Nach Dachau kam er das erste Mal 2005 und erneut 2014. Nun erinnern insgesamt 15 Steine an Opfer der Nationalsozialisten.

(Foto: Toni Heigl)

Auch in Dachau ist Demnig kein Unbekannter mehr: 2005 hat er die ersten sechs Stolpersteine verlegt, zum Gedenken an jüdische Bürger, die in der Pogromnacht 1938 vertrieben und später ermordet wurden. 2014 rief die Stadt den Künstler erneut: Diesmal wollte man sich an nicht-jüdische Bürger erinnern, die im Konzentrationslager umgebracht worden waren. Damals vergrub er vier weitere Gedenktafeln im Boden. Am Donnerstag verlegte er fünf weitere Stolpersteine in der Kreisstadt. Hauptthema ist dieses Mal die NS-Euthanasie, ein lange Zeit in der Öffentlichkeit unbeachtetes, ja verschwiegenes Verbrechen der Nazis. Geistig Behinderte und psychisch Kranke haben eben keine Lobby in der Gesellschaft - bis heute nicht. Erst die Sonderausstellung im vergangenen Jahr im NS-Dokumentationszentrum München habe die Menschen für das lange verdrängte Thema sensibilisiert, sagte Dachaus Oberbürgermeister Florian Hartmann (SPD) am Abend im Rathausfoyer.

Sechs Opfer hatte der Arbeitskreis Stolpersteine bei seinen Recherchen in Dachau gefunden, doch nicht alle Angehörigen schätzten das Gedenken an sie. Drei lehnten es ab, einen Stolperstein für sie verlegen zu lassen. Man fürchtete wohl eine Stigmatisierung. So hörte der Arbeitskreis öfters: "Man soll die Toten ruhen lassen." Doch es gibt auch Verwandte, die froh sind, dass die Stadt sich nun an die Ermordeten erinnert. Elfriede Ahr zum Beispiel. Sie ist sehr gerührt als sich etwa 30 Menschen vor ihrem Gartentor in der Augustenfelderstraße versammeln, um ihrer älteren Schwester Alwine Dölfel zu gedenken. Demnig überreicht ihr den messingbeschlagenen Stolperstein, auf dem die Lebensdaten der Schwester festgehalten sind. 13 Jahre wurde das Mädchen alt. Immer wieder zückt Ahr das Taschentuch. "Ich bin froh, dass so etwas kommt", sagt sie. In den vergangenen Tagen habe sich vor ihrem geistigen Auge die Kindheit noch einmal abgespielt und die Erinnerungen an ihre Schwester. "Ich habe sehr viel geheult."

Gedenken an Nazi-Opfer: Elfriede Ahr hat ihre Schwester nie vergessen. Im Rathaus sitzt sie neben Pfarrer Björn Mensing, Gerrit Hohendorf und OB Florian Hartmann (v.l.).

Elfriede Ahr hat ihre Schwester nie vergessen. Im Rathaus sitzt sie neben Pfarrer Björn Mensing, Gerrit Hohendorf und OB Florian Hartmann (v.l.).

(Foto: Toni Heigl)

Alwine war in der Familie immer präsent, berichtet auch Ahrs Tochter Franziska Kröling. "Sie ist am 1. Oktober ermordet worden, der Tag, an dem ich geboren wurde - natürlich nicht 1944", sagt sie. Und so seien ihre Geburtstage immer von einer gewissen Traurigkeit überschattet gewesen. Demnig kniet sich nieder, kratzt die Fugen eines Pflastersteins aus, hebt ihn heraus, um ihn zu ersetzen. Routiniert spachtelt er Mörtel in die Lücke, die Bauhofmitarbeiter gießen Wasser darüber, Demnig wischt und verteilt. Es dauert kaum fünf Minuten und der Stein glänzt auf dem Gehweg vor dem Gartentor.

Alwine Dölfel

Die 1931 geborene Alwine Dölfel erkrankte wohl nach einer Pockenimpfung. Sie konnte plötzlich "nur noch liegen und nicht mehr sprechen", erinnert sich Elfriede Ahr. Die Eltern konsultierten verschiedene Ärzte, doch eine Ursache konnte nicht gefunden werden. Auch unter medizinischer Beobachtung im Kinderheim Haar besserte sich ihr Zustand nicht. Der Psychiater hielt das vierjährige Mädchen für "blöd" und diagnostizierte "angeborenen Schwachsinn und Rachitis". Die Pfleger hatten jedoch einen anderen Eindruck. Obwohl Ahr damals erst zwei Jahre alt war, kann sie sich noch genau daran erinnern, wie es war, als die Mutter Alwine den Krankenschwestern übergab: "Meine Schwester schrie: Mama. Es war das erste Wort nach drei Jahren", erzählt sie. 1939 kam Alwine nach Schönbrunn, weil die Familie die Pflege nicht bewältigen konnte. Doch sie fuhr jeden Sonntag dorthin, um das Kind zu besuchen. "Sie war immer braun gebrannt und trug ein schönes Kleidchen", sagt Ahr. Im Frühjahr 1944 verhandelte der Anstaltsleiter Josef Steininger mit dem Krankenhaus des Dritten Ordens in München über Ausweichmöglichkeiten. Dazu musste in Schönbrunn Platz geschaffen werden. 48 Kinder wurden nach Haar verlegt, wo Alwine am 1. Oktober 1944 im Alter von 13 Jahren mit einer Überdosis Luminal ermordet wurde, berichtet Professor Gerrit Hohendorf von der Technischen Universität München. Er hat sich auf das Thema Euthanasie spezialisiert, die drei Dachauer Fälle recherchiert und erklärt dem Publikum im Rathausfoyer wie die Nazis vorgingen. Der Familie teilte man mit, dass Alwine an einer Lungenentzündung gestorben sei. Nur durch Zufall erfuhr die Mutter, dass die Sache anders lag, berichtet Ahr. "Die Geschichte meiner Tante hat mir ein Gefühl für die Schrecken des Krieges gegeben", sagt deren Tochter.

Therese Wildmoser

Therese Wildmoser fiel am 25. Februar 1941 dem Euthanasie-Programm der Nazis zum Opfer. Die damals 30-Jährige war wohl geistig behindert, sie lernte langsam und litt an epileptischen Anfällen, deshalb gaben die Eltern sie bereits mit sieben Jahren in eine Einrichtung. Damals hatte sie ein- bis zweimal im Monat epileptische Anfälle. Als sich dies besserte, nahm der Stiefvater sie 1929 in sein Haus auf - in der Benediktenwandstraße, wo nun auch der Stolperstein an sie erinnert. Der Stiefvater wollte der öffentlichen Fürsorge nicht zur Last fallen. Im November 1938 kam Therese erneut in die katholische Pflegeanstalt in Taufkirchen. Warum, weiß man nicht. Als das Innenministerium bestimmte, dass alle Pflegebedürftigen, die in katholischen Einrichtungen waren, in staatliche verlegt werden sollen, wurde auch Therese Wildmoser nach Haar gebracht. Das war im Oktober 1940. Auf höchster Ebene plante man bereits die Aktion T4, das bedeutet die Ermordung der Patienten aus staatlichen Anstalten, um den frei gewordenen Raum nutzen zu können. So wurde Therese Wildmoser etwa vier Monate später im Sammeltransport nach Linz gebracht und in der Tötungsanstalt Hartheim mit Kohlenmonoxid vergast. Die Familie bekam vermutlich einen Trostbrief mit gefälschtem Todesdatum und falscher Todesursache, berichtet Professor Hohendorf. Der Arbeitskreis Stolperstein, in dem neben Hohendorf auch die Versöhnungskirche, das Dachauer Forum, Sabine Gerhardus vom Gedächtnisbuch und Vertreter der Stadt mitarbeiten, machte die einzige noch lebende Verwandte von Therese Wildmoser ausfindig: ihre Stiefgroßnichte Monika Schmid-Geier. Diese war extrem erstaunt, zu erfahren, dass sie eine Großtante hatte, die ein solches Schicksal erleiden musste. "In unserer Familie hat man das verschwiegen", sagt sie bei der Stolpersteinverlegung. "Ich sehe meine Großeltern jetzt mit anderen Augen." Auch wenn sie die Großtante nicht kannte, so war es ihr wichtig, den Stein vor der Haustür zu haben. "Ich möchte ihn meinen Enkeln zeigen und ihnen einschärfen: Denkt mit und lasst euch nicht so einfach verführen."

Maria Linner

300 000 psychisch Kranke und geistig behinderte Menschen sind zwischen 1939 und 1945 unter dem Deckmantel des Gnadentods (griechisch: Euthanasie) ermordet worden, erklärt Professor Hohendorf seinem erschütterten Publikum. So habe man Platz schaffen wollen für diejenigen, die der Gesellschaft nützlich waren. Auch Maria Linner gehörte zu den Opfern. Die 1899 geborene Dachauerin wurde im Alter von 13 Jahren wegen einer Vereiterung schwerhörig. Sie arbeitete einige Jahre in der Pulverfabrik, später als Dienstmädchen. Doch dann wurde sie taub, verstand nichts mehr und entwickelte Ängste. Damals lebte sie im Bürgerspital, einem Haus für unterstützungsbedürftige Menschen in der Gottesackerstraße.

Dort ist nun für sie ein Stolperstein verlegt worden. Es war ihr letzter freiwilliger Wohnort, bevor man sie in eine Psychiatrische Klinik einwies und dann 1935 in die Pflegeanstalt Gabersee. Wenn sie sich wehrte, bekam sie Beruhigungsspritzen, so Hohendorf. 1940 brauchte man offenbar das Gebäude für die Kinderlandverschickung und für ein Lazarett. So wurden alle 119 Patienten nach Linz deportiert und ermordet.

Hans Eisenmann

Aber nicht alle Stolpersteine, die am Donnerstag verlegt werden, erinnern an Euthanasie-Opfer. Hans Eisenmann war politisch engagiert. Er sympathisierte mit den Kommunisten. In Dachau hatte die Ortsgruppe laut Pfarrer Björn Mensing etwa 150 Mitglieder und bei den Wahlen 1933 in Dachau erstaunlichen Rückhalt. Als die Nazis jedoch die Macht ergriffen, verhafteten sie ihre Widersacher sofort. Auch Hans Eisenmann kam in Schutzhaft. In Gefangenschaft zog er sich eine Kopfgrippe zu, an deren Folgen der damals 23-Jährige starb. Erwiesen ist es nicht, aber die Familie ist sich sicher, dass Hans Eisenmann im Gefängnis umgebracht worden ist. Sie ist froh um den Stolperstein. Die Leute, die jetzt in der Münchner Straße 24 leben, sind es indes weniger: In einem Haus, das nicht mehr steht, soll Eisenmann dort zuletzt ein Zimmer gehabt haben. Die Bewohner bestreiten, verärgert über den glänzenden Stein, dass es ein solches Haus gegeben hat, als Demnig seine Kelle in die Hand nimmt.

Samuel Gilde

Samuel Gilde war Arzt in München. Weil er Jude ist, entziehen im die Nazis 1938 seine Approbation. Sein Leben zerbröselt. Er kommt einen Monat bei einem Freund in Dachau unter. Es ist sein letzter freiwilliger Wohnsitz, an dem nun in der Sankt-Peter-Straße ein Stolperstein an ihn erinnert. Kurz nach der Pogromnacht 1938 wird Gilde festgenommen und ins KZ Dachau gebracht. Im Kloster Berg am Laim muss er Zwangsarbeit leisten. Im Juli 1942 wird er nach Theresienstadt deportiert, wo er zwei Jahre später ermordet wird. "Die Stolpersteine sind ein enorm wichtiger Beitrag für die Erinnerungsarbeit, gegen das Vergessen", sagt Oberbürgermeister Hartmann. Er hofft, dass in den nächsten Jahren weitere Steine verlegt werden können.

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