Erinnerungsarbeit:Zeichen gegen Antisemitismus setzen

Befreiungsfeier 2017

Jean-Michel Thomas, Vorsitzender des Comité International de Dachau, warnt vor steigendem Nationalismus.

(Foto: Niels P. Jørgensen)

Vor 73 Jahren wurde das Konzentrationslager Dachau befreit. Redner der Gedenkfeier verweisen darauf, dass jüdische Mitbürger auch heute noch Angriffen und Anfeindungen ausgesetzt sind

Von Helmut Zeller, Dachau

Der Zentralrat der Juden in Deutschland warnt: Jüdische Bürger sollten in Großstädten keine Kippa tragen, da sie sich sonst der Gefahr von Angriffen auf der Straße aussetzen. 73 Jahre nach Kriegsende erstarkt der Antisemitismus in Deutschland - die Gedenkfeiern zur Befreiung der Konzentrationslager in den ersten Monaten des Jahres 1945 stehen im Schatten dieser Entwicklung. Das Comité International de Dachau (CID), das die Gedenkfeier zum 73. Jahrestag der Befreiung am 29. April ausrichtet, blickt mit Sorge auf "den Aufstieg von Nationalismus und Populismus" in ganz Europa, wie CID-Präsident Jean-Michel Thomas der SZ sagt. "Mit dem Anstieg des Antisemitismus ist die gegenwärtige Situation ähnlich wie vor dem Zweiten Weltkrieg." In diesem Jahr werden 17 Überlebende aus Brasilien, Deutschland, Frankreich, Israel, den Niederlanden, Österreich, der Ukraine und den USA an der Gedenkfeier teilnehmen. Nur noch wenige Zeitzeugen fühlen sich gesundheitlich in der Lage, lange Reisen anzutreten, wie Gabriele Hammermann, Leiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau, erklärt.

Die Gedenkstättenleiterin Hammermann erwartet von der Gedenkfeier, wie sie sagt, "dass auch gegenüber der jüdischen Gemeinschaft, mit der wir den Gedenktag gemeinsam begehen, signalisiert wird, dass es bei Antisemitismus eine Null-Toleranz gibt. Es braucht keine Sonntagsreden, sondern Solidaritätskundgebungen, die von allen Teilen der Gesellschaft ausgehen. Auch der Landtagsabgeordnete Karl Freller (CSU), Direktor der Stiftung Bayerische Gedenkstätten, wendet sich gegen den wachsenden Antisemitismus: "Die Angriffe auf Kippa-Träger sind unerträglich, die Hassdemonstrationen gegen den Staat Israel ebenso." Die deutsche Gesellschaft müsse noch mehr Solidarität für die jüdische Bevölkerung als bisher zeigen, sagte er am vergangenen Sonntag in der Gedenkstätte Flossenbürg. "Mir persönlich ist es eines der größten Anliegen, an der Rückkehr des jüdischen Lebens in die deutsche Alltagswelt mitzuwirken", sagt Karl Freller.

Die Untersuchungen des Soziologen Oliver Decker sprechen eine andere Sprache: "Die Juden haben einfach etwas Besonderes und Eigentümliches an sich und passen nicht so recht zu uns", erklärten 38,8 Prozent der Befragten für eine Studie im Jahr 2012. 44,3 Prozent der Befragten waren teilweise bis ganz der Meinung, "auch heute noch ist der Einfluss der Juden zu groß" - das sind einige der niederschmetternden Ergebnisse nicht von Untersuchungen im extremen Milieu, sondern in der Mitte der Gesellschaft. RIAS, die Berliner Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus, hat in ihrem Jahresbericht für 2017 insgesamt 947 Fälle erfasst. 18 Angriffe, 23 Bedrohungen, 42 Sachbeschädigungen, 679 Fälle verletzenden Verhaltens, davon 325 online sowie 185 Vorfälle von Massenpropaganda, also ungefähr zweieinhalb pro Tag. Der zukünftige Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, erklärt, dass auch in anderen Bundesländern eine solche differenzierte Betrachtung des alltäglichen Antisemitismus zu leisten sei.

Die jüdischen Gemeinden in Deutschland beobachten schon seit langem das Erstarken des Antisemitismus - aber ihre Warnungen wurden nicht gehört. Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, wird am Sonntag am jüdischen Mahnmal sprechen. "Antisemitismus bedroht uns von rechts, von links, von Muslimen und ereilt uns auch aus der Mitte der Gesellschaft. Kaum ein jüdischer Schüler wurde noch nicht Opfer von antisemitischem Mobbing. In Frankreich werden Menschen ermordet, weil sie Juden sind", schrieb Charlotte Knobloch in der Jüdischen Allgemeinen vom 24. April.

CID-Präsident Jean-Michel Thomas und sein Vize, der Schoah-Überlebende Abba Naor, stellen die Frage: "Was haben wir in den 73 Jahren seit Kriegsende erreicht?" Es habe Fortschritte gegeben, aber eben auch Misserfolge. "Zum 70. Jahrestag der UN-Erklärung der Menschenrechte sind wir weit davon entfernt, die Ziele erreicht zu haben", sagt Thomas. Der CID-Präsident wird darauf in seiner Rede am Sonntag auf dem ehemaligen Appellplatz eingehen. Gabriele Hammermann betont: "Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, der historisch-politischen Bildung, der Erziehung, gegen den latenten Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft, gegen den aggressiven rechten Antisemitismus, der immer noch zu den meisten Straftaten führt (das dürfen wir nicht vergessen), und gegen den muslimischen antiisraelischen Antisemitismus kompromisslos vorzugehen." Das KZ Dachau, in dem mehr als 200 000 Menschen aus ganz Europa gefangen waren, wurde am 29. April 1945 von amerikanischen Soldaten befreit. Etwa 41 500 Häftlinge sind ermordet worden.

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