Die Welt des Akkordeons:Mit Empathie und Temperament

Egal ob Liebeslied, Vertriebenenschicksal oder in Musik gegossene Philosophie - die Akkordeonale begeistert die Dachauer

Von Dorothea Friedrich, Dachau

Die Welt des Akkordeons: Mit zutiefst melancholischen Tönen machen (von links) Dimos Vougioukas, Rafael Fraga, Youssra El Hawary und Veronica Perego gemeinsam das Schicksal der in den 1920er Jahren aus der Türkei vertriebenen Griechen greifbar.

Mit zutiefst melancholischen Tönen machen (von links) Dimos Vougioukas, Rafael Fraga, Youssra El Hawary und Veronica Perego gemeinsam das Schicksal der in den 1920er Jahren aus der Türkei vertriebenen Griechen greifbar.

(Foto: Toni Heigl)

"Andante con moto - mäßig, langsam doch mit Bewegung", schiebt sich eine Menschenmenge in die Dachauer Friedenskirche. Dorthin hat die Kleinkunstbühne Leierkasten zur "Akkordeonale" eingeladen, einem Festival, das fast ausschließlich dem Akkordeon und dem Bandoneon gewidmet ist.

Anfangs wird gedrängelt, ja sogar geschubst vorwiegend von Damen und Herren gereiften Alters. Vergleichbar ist das nur mit dem alljährlichen Kampf um die schönsten Geranien beim Discounter. Warum eigentlich? Vielleicht weil das Handzuginstrument in seinen unterschiedlichen Ausprägungen als Harmonika, Ziach, Diatonische, Bandoneon, Quetschn oder auch Schifferklavier beinahe weltweit im Einsatz ist. Es ist in der urbayerischen Volksmusik genauso unverzichtbar wie beim Tango in Finnland. Es befuhr und befährt - auch lange nach den Zeiten von Hans Albers und Freddy Quinn - die Weltmeere. Der einsame Film-Gaucho singt begleitet vom Bandoneon unverdrossen die Sterne an. Spätestens Astor Piazzolla und Mikis Theodorakis haben das Instrument salonfähig gemacht, lange bevor die Weltmusik Konzertsäle und Stadien eroberte. So ist es gut nachvollziehbar, dass für Akkordeonalechef Servais Haanen und seine Musiker das Akkordeon "mehr Glückshormone freisetzt als Schokolade". Nach fast drei Stunden mit Klängen weit ab vom Mainstream lässt sich nur sagen: Stimmt.

Die Welt des Akkordeons: Der Chef der Akkordeonale Servais Haanen ist nicht nur ein begnadeter Musiker und Komponist, er ist auch ein witziger Moderator.

Der Chef der Akkordeonale Servais Haanen ist nicht nur ein begnadeter Musiker und Komponist, er ist auch ein witziger Moderator.

(Foto: Toni Heigl)

Der Niederländer Haanen - begnadeter Musiker, Komponist, Arrangeur und witziger Moderator - hat nämlich ein fabelhaftes Ensemble zusammengestellt. Die junge Ägypterin Youssra El Hawary, der Grieche Dimos Vougioukas, der Brasilianer João Pedro Teixeira und der Argentinier Omar Massa sind wunderbare Akkordeonisten. Veronica Perego ist eine lebenssprühende Bassistin und eine italienische "Dottoressa der Philosophie", der Portugiese Rafael Fraga ein feinsinniger Gitarrist. Jeder Musiker verbindet die Klänge seines Heimatlandes, Jazz und sogar barocke Klassik, Volks- und Tanzmusik auf eine ganz individuelle Art zu einem in sich stimmigen Ganzen - ohne Effekthascherei, dafür aber mit Empathie und Temperament.

Youssra El Hawary besingt mit süßer Stimme ihre Heimatstadt Kairo, "einen grausamen Liebhaber" und versinkt förmlich in ihrem Akkordeon. "Marrons glacés - kandierte Maronen" sind eine ziemlich zuckrige Angelegenheit. Marrons glacés ist aber auch der Titel eines ägyptischen Liebeslieds. Das wird in der Hawary-Version zu einer unwiderstehlichen Leckerei.

Dimos Vougioukas erzählt in seiner Eigenkomposition "Nostalgias" von den in den 1920er Jahren aus der Türkei vertriebenen Griechen. Es bedarf keiner Worte, nur zutiefst melancholischer Töne, um die unstillbare Sehnsucht nach der unerreichbaren Heimat und dem Elend des Migrantenschicksals greifbar zu machen. Dieses traurig-schöne Stück Heimweh im Ohr, verzichtet man künftig liebend gerne auf schönfärberische Touristensirtakis.

Die Überraschung des Abends kommt jedoch von Omara Massa. Er spielt eine Toccata nebst Fuge von Johann Sebastian Bach auf dem Bandoneon. Im Geiste hört man die ewig gestrigen Klassikadepten schon "Sakrileg" schreien. Doch hätte der Leipziger Thomaskantor Massas tiefgründigem und zugleich von tänzerischer Leichtigkeit beseeltem Spiel lauschen können, hätte er garantiert ganze Solosuiten für dessen Instrument komponiert. Massa ist einer der ganz Großen seines Fachs und in der Barockmusik ebenso zu Hause wie im argentinischen Tango. Er sei der einzige Mensch, dem die Familie erlaubt habe, auf Astor Piazzolas Bandoneon zu spielen, erzählt Moderator Haaren. Von ihm stammt ein bezeichnendes Stück namens "Changes". Das ist in Musik gegossene Philosophie mit meditativer Anmutung.

Vibrierend, aufregend, voller Energie ist hingegen Teixaras Hommage an Brasilien, seinen kargen Nordosten und sein tropisches Amazonien. Fado und Bossanova sind für den Gitarristen Raphael Fraga nur zwei von vielen unversiegbaren Quellen musikalischer Ausdrucksformen. Sein Spiel ist - ebenso wie das von Bassistin Perego - viel mehr als obligate Akkordeonbegleitung. Gitarre und Kontrabass sorgen vielmehr für das Extraquäntchen begeisternde Musikalität. So wird dank des exzellenten, einfühlsamen Spiels jedes Stück ein Akkordeonalejuwel und Astor Piazollas heiß ersehnter "Libertango" zum Solitär, der das begeisterte Publikum "con brio - mit viel Schwung" nach Hause entlässt.

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