Petitionsausschuss:Tagesordnungspunkt 26 - das Schicksal einer Familie

Die Sahitis werden von IS-Terroristen bedroht, dennoch will Deutschland sie in den Kosovo abschieben.

Von Helmut Zeller, Dachau

Die Verhandlung, vor der Aslan Sahiti schon seit Tagen Angst hat, hätte längst beginnen müssen. Die Dolmetscherin fehlt aber noch. Richterin Christine Gibbons liest in der Akte Sahiti. Die kennt sie zwar schon, was aber soll sie anderes tun, während alle warten. Die 16. Kammer des Bayerischen Verwaltungsgerichts in München ist kein Ort für eine nette Plauderei. Sie entscheidet über die Zukunft des 45-jährigen Kosovaren Aslan Sahiti und seiner Familie. Ihnen allen droht die Abschiebung. Es sieht schlecht aus. Den Eilantrag auf aufschiebende Wirkung des Bescheids vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) hat die 16. Kammer bereits abgelehnt, ohne Anhörung nach Aktenlage. Jetzt, in der Hauptverhandlung, sieht die Richterin Aslan Sahiti zum ersten Mal. Sie lächelt ihm zu und vergräbt sich wieder in seiner Akte. Wenn sie eine Seite wendet, raschelt das Papier laut in der Stille im Sitzungssaal 134. Aslan Sahiti knetet unter dem Tisch nervös seine Hände. Er wirkt, als wäre er angeklagt. So fühlt es sich auch fast an, seitdem er mit seiner Frau und drei Kindern vor mehr als einem Jahr nach Bayern geflohen ist.

Der Name Sahiti wird als Anklage über sie kommen

Seitdem haben viele Menschen - Politiker, Behördenmitarbeiter, Asylhelfer, Journalisten, Pfarrer und Nonnen in München und Dachau - den Weg der Sahitis gekreuzt. Die politischen Statements, die über die Fernsehnachrichten jeden Abend in deutsche Wohnzimmer dringen, sind die eine Seite. Gesicherte Außengrenzen, Schlepperbekämpfung, EU-Abkommen, Vereinbarung mit der Türkei, sichere Herkunftsländer. Aber einem aus der anonymen Masse der Flüchtlinge gegenüber zu sitzen, ist das andere - es sei denn, man hat kein Herz und verschließt sich jeder Empathie. Die Begegnung sinkt aber auch ins Gedächtnis der Gleichgültigen, die sich hinter ihrer Rechtschaffenheit verstecken. Der Name Sahiti wird als Anklage über sie kommen, irgendwann, wenn der Glanz von Titel und Karriere verblasst, und sie an den Rand gedrängt auf Beachtung hoffend auf ihre nackte Existenz zurückgeworfen sind.

So nackt wie sich Aslan Sahiti unter den Blicken der anderen fühlt. Darüber spricht er aber nicht. Warum auch? Immer wieder hat er seine Geschichte von der Verfolgung durch den sogenannten Islamischen Staat erzählt. Geglaubt hat ihm bisher niemand, auch die 16. Kammer nicht, die für jeweils 30 Verfahren über Streitigkeiten nach dem Asylgesetz aus den Herkunftsländern Albanien und Kosovo zuständig ist. Aslan Sahiti ist fast die ganze Nacht im Flüchtlingslager in der Kufsteiner Straße in Dachau wach gelegen. Aber heute fällt Richterin Christine Gibbons kein Urteil. Die Dolmetscherin hat den Termin verwechselt und ist nicht mehr gekommen. Sie müsste erst aus Gräfelfing anreisen. Schließlich beendet die Richterin das Warten. Sie einigt sich mit Rechtsanwalt Felix Briesenick, der noch andere Termine hat, auf eine Verschiebung der Verhandlung. "Das tut mir leid für sie", sagt sie zu Aslan Sahiti und lächelt ihn wieder an.

Das Lächeln nimmt Aslan Sahiti mit aus dem Gerichtsgebäude in die Bayerstraße hinaus. Im Verkehrslärm der Ludwigsvorstadt muss er fast brüllen, um gehört zu werden: "Das war ein nette Frau!" Er ist erleichtert, denn er befürchtete, er würde der Mitarbeiterin des Bamf gegenüber treten müssen. Die hatte ihm im zweiten Gespräch nach seiner Ankunft in München, im Juli 2015, barsch erklärt, dass sie ihm nicht glaube und Kosovaren ohnehin kein politisches Asyl bekommen würden. Sahitis Eindruck trügt nicht. Unter den 72 Richtern des Bayerischen Verwaltungsgerichts hat ihn der Zufall zu einer gebracht, die aufgeschlossen wirkt und sich die Entscheidung nicht einfach machen wird. Auf einem Blatt Papier hat sie eine Menge Fragen notiert. Sie bedauert die Terminverschiebung, hatte sie doch nur eine Verhandlung an diesem Tag angesetzt, um Zeit zu haben. Zeit für Aslan Sahiti. Das hat er seit seiner Flucht noch nicht erlebt. Das muss er über Handy gleich seiner Frau sagen.

Kompliziertes Asylgesetz

Petitionsausschuss: Für den sogenannten Islamischen Staat werden in Kosovo Kämpfer angeworben oder auch gezwungen, am Krieg in Syrien teilzunehmen.

Für den sogenannten Islamischen Staat werden in Kosovo Kämpfer angeworben oder auch gezwungen, am Krieg in Syrien teilzunehmen.

(Foto: AP)

Aslan Sahiti blickt trotz seiner guten Deutschkenntnisse nicht wirklich durch, welche Ämter und Behörden für was zuständig sind. Das komplizierte Asylgesetz verstehen selbst die meisten Deutschen nicht. Petitionsausschuss des Landtags, Härtefallkommission, Bundesamt, Gericht, Ausländerbehörde im Dachauer Landratsamt - das sind für Aslan Sahiti vor allem lange Korridore und Türen, vor denen er wartet. Manchmal kommt er sich dann sehr einsam vor. Das ist er. Aslan Sahiti schaut auf die Menschen, aus ihren Gesichtern versucht er herauszulesen, wer sie sind.

Wie John Mitterbacher, Verwalter der Flüchtlingsunterkunft in der Kufsteiner Straße mit 130 Menschen. Für den "John", wie alle ihn rufen, ist nicht entscheidend, ob einer Christ oder Moslem, ob er schwarz oder weiß ist. Er schaut auch auf den Menschen. Nach einigen Gesprächen hat der Verwalter Aslan Sahiti mit Hausmeisterarbeiten betreut - und damit viel für den 45-jährigen Mann getan, den Ärzte für stark suizidgefährdet halten. Manchmal weiß er nicht, was schlimmer ist: die Untätigkeit, zu der ihn das Asylgesetz zwingt, oder die Furcht vor der Abschiebung.

John kann sie nicht aufhalten, auch nicht der Mitarbeiter der Ausländerbehörde, der Aslan Sahiti oft ein aufmunterndes Wort schenkt, oder die freundlichen Helfer der Caritas Dachau. Richterin Christine Gibbons könnte. Man möchte nicht in ihrer Haut stecken. Ihr Urteil entscheidet über das Leben von fünf Menschen. Sie sind beim Helferkreis Asyl in Dachau beliebt und geschätzt. Der 16-jährige Ensar Sahiti lernte in wenigen Monaten so gut Deutsch, dass er die Aufnahmeprüfung für die Flüchtlingsklasse der Berufsschule bestand. Der hochintelligente Nehar durfte in der Mittelschule von der 5. in die 7. Klasse wechseln, weil er sich laut Lehrern sonst nur langweilt, und auch die zehnjährige Tochter Elma macht in der Grundschule gute Fortschritte. Darauf achten schon Aslan Sahiti und seine 42-jährige Frau Nexhmije selbst. Sie sind stolz auf ihre Kinder. Eigentlich sind sie es, die Aslan Sahiti das alles noch aushalten lassen. Er wurde zum Elternsprecher der Klasse seines Sohnes Nehar an der Mittelschule Dachau Ost gewählt.

Gute Sozialprognose

Die Sozialprognose - so heißt das in der Behördensprache - ist außergewöhnlich gut. Oder anders ausgedrückt: Die Integration läuft bei dieser Flüchtlingsfamilie schon, bevor sie überhaupt weiß, ob sie hierbleiben darf. Beachtlich. Nur zählt das - in diesem Fall - für die staatlichen Stellen nicht. Zum Beispiel den Dachauer Landrat Stefan Löwl (CSU). Auch er ist einer der Politiker, der, ob er es will oder nicht, mit dem Schicksal der Sahitis verbunden ist. Er kennt sie unter den etwa 2000 Flüchtlingen im Landkreis aus den Berichten der Süddeutschen Zeitung, den Dokumentationen des ZDF und des Bayerischen Rundfunks. Auf den Namen Sahiti reagiert der sonst so eloquente Landrat aber wortkarg. Er erzählt immer wieder die Geschichte der Roma-Familie, die ihn persönlich um Hilfe bat, sagte, dass ihre Töchter im Falle der Abschiebung sich prostituieren müssten, weil es für die diskriminierten und verfolgten Roma in Mittelosteuropa absolut keine Arbeit gibt. "Ja, mein Gott, was soll ich denn machen. Ich habe doch selbst Kinder", sagt Löwl. Er konnte ihnen nicht helfen.

Selbst ein Landrat kann da nichts machen - oder vielleicht doch? Es gab einmal, im Landkreis Erding, einen Landrat, eine außergewöhnliche Persönlichkeit. Xaver Bauer, ein strammer CSU-Soldat, der als oberster Chef der Ausländerbehörde einer türkischen Mutter und ihrem kleinen Mädchen - der Vater wurde von der S-Bahn überfahren - kurzerhand die unbefristete Aufenthaltserlaubnis gab und damit das Risiko einging, vom damaligen Innenminister Günther Beckstein offiziell gerügt zu werden. "Wissen Sie", sagte er lachend, "ich habe mein Leben lang der CSU gedient. Ich bin auf dem Höhepunkt meiner politischen Karriere. Nicht ich brauche die CSU, die Partei braucht mich". Xaver Bauer fuhr Wahlergebnisse mit knapp 80 Prozent der Stimmen ein. Und er hatte, das war ausschlaggebend, ein Herz.

Allianz aus Vertretern von Kirchen, Politik, Bürgern

Petitionsausschuss: Die Familie Sahiti: Ensar (von links), Aslan, Elma, Nexhmije und Nehar in der Flüchtlingsunterkunft in der Kufsteiner Straße.

Die Familie Sahiti: Ensar (von links), Aslan, Elma, Nexhmije und Nehar in der Flüchtlingsunterkunft in der Kufsteiner Straße.

(Foto: Toni Heigl)

Rechtsanwalt Felix Briesenick sagt, solange ein Gerichtsverfahren anhängig ist, kann die Ausländerbehörde nicht aus humanitären Gründen eine Aufenthaltsberechtigung aussprechen - gegen die das Bamf nichts zu tun vermag. Deshalb akzeptierte er die Ablehnung seines entsprechenden Antrags an die Ausländerbehörde Löwls in Dachau. Aber später könnte das Ausländeramt das doch tun? Briesenick hofft eher auf Richterin Christine Gibbons - oder den Petitionsausschuss des Bayerischen Landtags. Denn fast Unglaubliches hat sich zugetragen. Eine Allianz aus Vertretern von Kirchen, Politik, Bürgern und Holocaust-Überlebenden in Dachau stellt sich vor die Familie Sahiti. Sie haben die Petition Ende Dezember 2015 eingereicht.

Unter den Unterzeichnern sind Dachaus Oberbürgermeister Florian Hartmann (SPD), der Zweite Bürgermeister Kai Kühnel (Bündnis für Dachau), der Präsident des Comité International de Dachau, Jean-Michel Thomas, dessen Vater Häftling im Konzentrationslager Dachau war. Landrat Löwl hatte abgelehnt, aber sein Parteifreund, der Dachauer CSU-Chef Tobias Stephan, unterschrieb die Petition im Namen von Pater Cornelius Heinrich Denk von der Pfarrei St. Peter - im Widerspruch zu seiner Partei, die pauschal sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge aus den Balkanländern möglichst schnell wieder los werden will. Vielleicht hat Tobias Stephan erkannt, dass in der Behandlung des Falls Sahiti ein Skandal angelegt ist, wenn denn jemand darauf kommt, dass ein IS-Verfolgter abgeschoben wird.

Die Last der Verantwortung

Genfer Flüchtlingskonvention und deutsches Asylgesetz sehen den Schutz von politisch, rassistisch oder religiös Verfolgten vor, auch der Menschen, die aus Kriegsgebieten fliehen. Das alles gilt aber doch nicht für Flüchtlinge aus sogenannten sicheren Herkunftsländern wie Albanien oder Kosovo. Darum geht es jetzt in der Sitzung des Petitionsausschusses, der völlig überraschend am Mittwoch, 13. April, über die Petition berät. Denn in der Praxis behandelt der Ausschuss solche Eingaben erst nachdem ein anhängiges Gerichtsverfahren beendet ist und orientiert sich dann in seiner Entscheidung am Gerichtsurteil. Richterin Christine Gibbons mag das gelegen kommen - wer mag schon die Schuld eines Fehlurteils auf sich laden.

Der Abgeordnete Benno Zierer ist neben einem Kollegen der CSU Berichterstatter für den Tagesordnungspunkt 26 - Sahiti. Benno Zierer, der für die Landtagsfraktion der Freien Wähler den Landkreis Dachau betreut, ist 60 Jahre alt und im Nebenberuf Landwirt. In Kleinbachern, einem Dorf mit 70 Einwohnern vor den Toren der Domstadt Freising hat er auf seinem Hof eine Tagesstätte für Behinderte untergebracht. "Ich betreibe noch Ackerbau und bewirtschafte Waldflächen - das ist für mich ein Ausgleich zur Politik und eine Tätigkeit, die mir Bodenhaftung gibt", sagt Zierer. Vielleicht liegt es daran, dass er ein Politiker mit Herz ist. Die Schicksale von Flüchtlingen lasten schwer auf ihm. Manchmal, sagt er, fährt er nach dem Ausschuss niedergedrückt nach Hause. Aber Deutschland kann doch nicht alle Flüchtlinge aufnehmen. Das sagen alle. Benno Zierer will sich für die Sahitis nicht nur deshalb einsetzen, weil er ein gutes Herz hat, sondern die politische Dimension des Falls begreift.

Sollen deutschen Behörden dem IS die Kämpfer zutreiben?

Ein Jahr vor seiner Flucht beging Aslan Sahiti einen schweren Fehler. Nach einem Besuch der Moschee in der kosovarischen Hauptstadt Priština ließ er sich von zwei Wahabiten in ein Café einladen und nahm ihr Angebot an: 300 Dollar monatlich, wenn er täglich fünfmal beten würde. Sahiti, der seine Arbeit als Kellner verloren hatte und die Familie mit Gelegenheitsjobs über Wasser hielt, nahm an. Kosovo: Nach Angaben der Vereinten Nationen leben etwa 17 Prozent der Bevölkerung in extremer Armut (Ausgaben von weniger als 0,94 Euro pro Tag) und 45 Prozent in absoluter Armut (weniger als 1,42 Euro pro Tag). Etwa 16 Prozent der Kinder sind von Nahrungsmangel und Folgeerkrankungen betroffen. Die Arbeitslosigkeit wird auf mehr als 40 Prozent, bei Jugendlichen auf mehr als 70 Prozent geschätzt. Das desolate Land hat sich zu einer Drehscheibe für den IS entwickelt, der mittlerweile sogar Ausbildungscamps im Land unterhält. Die Wahabiten, finanziert aus Saudi Arabien, werben IS-Kämpfer für Syrien an oder zwingen Kosovaren dazu - wie Aslan Sahiti. Nach einem Jahr stellten ihn die zwei Wahabiten vor die Wahl: Entweder geht er nach Syrien, oder sein 16-jähriger Sohn Ensar wird entführt.

Das stört die Flüchtlingspolitik aber, Berlin will das nicht sehen - und die Abgeordneten im Petitionsausschuss? Zierer hat da seine Zweifel. Visar Duriqi aus Kosovo könnte dem Ausschuss einiges erzählen: Der 27-jährige Journalist hat die Netzwerke des IS in seiner Heimat für die "Gazetta Express" recherchiert. Dafür wurde er von den islamischen Terroristen mit dem Tod bedroht. Die Hamburger Stiftung für politische Verfolgte hat ihn aufgenommen. Shpend Kursani vom Kosovarischen Zentrum für Sicherheitsstudien (KCSS) bestätigt, dass es diese Fälle im Kosovo gibt. Fast schon zynisch klingt da die Begründung des Bamf: Aslan Sahiti könne doch eine "innerstaatliche Fluchtalternative" wählen. Der Westen bekämpft den IS - und deutsche Behörden treiben ihm einen Kämpfer zu? Schwester Irmengard, Priorin des Karmel-Klosters in Dachau, blickt noch tiefer: "Wenn es so weitergeht, dann können wir das Christliche aus unserer Wertvorstellung streichen." Das sieht Benno Zierer ähnlich - vielleicht auch die anderen Mitglieder des Petitionsausschusses.

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