Dachauer Zeitgeschichte:Erzähltes Leben

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Zeitzeugen-Porträts sind Teil der Ausstellung über fünf Jahre Geschichtswerkstatt im Landkreis Dachau. Zu sehen im Landratsamt. (Foto: Toni Heigl)

Fünf Jahre lang hat die Geschichtswerkstatt des Landkreises das Leben nach dem Zweiten Weltkrieg erforscht. In einer Ausstellung zieht sie jetzt eine positive Bilanz und plant weitere Vorhaben

Von Wolfgang Eitler, Dachau

Wenn ein sechsstelliger Betrag für die geschichtliche Erforschung des Landkreises ausgegeben wird, möchte man schon wissen, was denn nun nach den fünf Jahren wirklich herausgekommen ist. Eine Ausstellung als eine Art Bilanzierung ist am Montagabend im Landratsamt eröffnet worden. Dabei lässt sich die eine zentrale These nicht herausfiltern, vielmehr spricht ein Kaleidoskop an Erfahrungen und Erkenntnissen dafür, dass die Dachauer Geschichtswerkstatt gemeinsam mit den zahlreichen Heimatforschern ihre Tätigkeit fortsetzen und sich mit den Fünfzigerjahren befassen wird. Darin besteht die eigentliche Botschaft, die Landrat Stefan Löwl (CSU) und Günter Heinritz (SPD), Stadtrat und Referent für Zeitgeschichte, gemeinsam mit dem oberbayerischen Bezirksheimatpfleger Norbert Göttler und Vertretern der einzelnen Arbeitskreise auf unterschiedliche Weise formulierten.

Löwl und Heinritz sprachen sich dafür aus, die Erinnerungen der Menschen aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg aufzubewahren, weil sie in dieser Aufgabe einen Beitrag zur Identitätsfindung sehen. Für die zahlreichen Heimatforscher spielt die ganz persönliche Bereicherung eine zentrale Rolle. Denn dadurch haben sie einen teilweise ganz neuen Zugang zu ihren Gemeinden und zum Landkreis gefunden. So erzählte die Leiterin der gesamten Geschichtswerkstatt, die Ethnologin Annegret Braun, aus ihrer Heimatgemeinde Sulzemoos die Geschichte von der Gemeinschaftssauna, die ein Arzt nach dem Zweiten Weltkrieg errichtete. Er verfolgte dabei das Ziel, die Hygiene auch unter den Flüchtlingen zu verbessern. Schließlich aber ließen sich dort ganze Schulklassen während der Winterzeit als Ersatz für den Sportunterricht nieder.

Solche Anekdoten hören sich einerseits lustig an, andererseits gewähren sie einen Einblick in das Leben der damaligen Zeit und gewinnen unvermittelt an Aktualität. Integration muss man leben; sie ist nur teilweise zu verordnen. Landrat Löwl bewertet die Ausstellung als Indiz und Beleg dafür, dass die Flüchtlingsfrage gelöst werden könne. "Wenn man einen Beweis sucht", sagt Löwl, dann findet man ihn in dieser Ausstellung. Vermutlich braucht es nicht einmal fleißige Frauen, die nach dem Krieg in Odelzhausen rote Hosen aus Hakenkreuzfahnen für ein Fußballspiel zwischen der heimischen Mannschaft und Flüchtlingen nähten.

In einem Vortrag leuchtete Bernd Schoßig, der frühere Leiter des internationalen Jugendgästehauses und Historiker an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, den wissenschaftlichen und historischen Hintergrund der Geschichtswerkstätten in ganz Deutschland und ihrer Ableger in allen Kommunen des Landkreises aus. Schoßig zeigte auf, wie in den späten Sechzigerjahren die bundesweite Bewegung einer historischen Forschung "von unten" entstanden ist. Damals waren viele Initiativen vor allem aus der alternativen Szene mit einer Geschichtswissenschaft unzufrieden, die sich allein an Fakten orientierte und die Erfahrungen der Menschen allenfalls als blumiges Beiwerk würdigte. Damals gründeten sich in zahlreichen Städten Geschichtswerkstätten, die sich 1983 zu einem Verband zusammenschlossen. Sie konzentrierten sich auf Bereiche, die in den Universitäten nicht berücksichtigt wurden: die Ökologie, die Friedens- und die Frauenforschung. Schoßig war 1987 beispielsweise maßgeblich an einem Projekt über die Geschichte eines beschädigten Flusses, der Isar, beteiligt.

Vor allem aber konzentrierten sich diese Gruppen, viele von ihnen Laien, auf den Alltag. Schoßig sprach von einer "Hinwendung zum Subjekt". Wie überfällig diese Art der Auseinandersetzung war, zeigten die zahlreichen Zeitzeugenprojekte, die in dieser Zeit als erzähltes Leben entstanden sind. Wie wichtig sie gerade für die historische Forschung auch im wissenschaftlichen Sinne wurden, belegen die zahlreichen, auch in Dachau entstandenen Porträts ehemaliger KZ-Häftlinge.

Die Ausstellung im Landratsamt ist zweigeteilt. Auf der einen Seite stehen die Dokumente des Alltags im und nach dem Zweiten Weltkrieg. Auf der anderen die Biografien ehemaliger KZ-Häftlinge aus dem Landkreis Dachau. Seit fast zwei Jahrzehnten leitet Sabine Gerhardus das Dachauer Gedächtnisbuch, für das vornehmlich Laien auf Spurensuche gehen. Dieses Projekt ist in die Geschichtswerkstatt eingebunden worden. Am Montagabend konnte Gerhards dem Gedächtnisbuch eine weitere Biografie hinzufügen: dies des Dachauer Kommunisten Anton Mang, Häftling Nr. 2 des Konzentrationslagers Dachau.

An diesem Beispiel wird erreicht, was Bernd Schoßig als das große Ziel für die historisch-politische Alltagsforschung ausgab: "Geschichten verdichten sich zu Geschichte."

© SZ vom 14.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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