Dachauer Theatertage:Akrobatisches Erzählen

Die Dachauer Theatertage haben sich bislang fast ausschließlich dem Duo Schweizer Nicole et Martin gewidmet. Und das hat einen guten Grund.

Sophie Burfeind und Anna Schultes

- Vor genau 200 Jahren veröffentlichten die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm ihre erste Sammlung deutscher Volksmärchen. Ursprünglich wollten sie in diesem wissenschaftlichen Projekt die "reine" Stimme des deutschen Volkes und die "Naturpoesie" der einfachen Leute einfangen. Die erste Ausgabe 1812 mit zahlreichen Anmerkungen ähnelte daher mehr einem dicken Wälzer für Gelehrte. Die bekannte Ausgabe mit 211 klassischen Märchen entstand 1857. Erst darin wurden Kinder zu den Adressaten der Märchen. 2005 wurden die Kinder- und Hausmärchen zum Unesco-Weltkulturerbe erklärt.

Wegen dieses Jubiläumsjahres stehen auch die 13. Dachauer Theatertage 2012 ganz im Zeichen der Grimmschen Kinder- und Hausmärchen. Und zwar gezielt auch für Erwachsene. Ein erster Höhepunkt der ersten Woche war der Auftritt der Compagnie Nicole et Martin. Bereits 2008 reiste das Ehepaar Gubler-Schranz zu den Theatertagen nach Dachau. Seitdem war Frank Striegler, Geschäftsführer der Dachauer Theatertage, klar, dass er das Schweizer Ensemble unbedingt noch einmal in die Stadt holen wollte.

Die beiden Schauspieler und Artisten stellten ihre Märcheninszenierungen am vergangenen Wochenende in einem eigenen Zelt auf der Postschulwiese vor. Märchenhaft ist allein schon die Atmosphäre im Zeltinneren: Die Besucher sitzen in einem engen Halbkreis um die Bühne herum, sind bei jedem Satz, jeder Bewegung hautnah dabei und lassen sich verzaubern.

Als das Stück "Das Mädchen ohne Hände" seinen Höhepunkt erreicht hat, muss man einen Moment lang innehalten: Martin balanciert auf einem Seil, streckt die Arme nach oben. Nicole hängt kopfüber von der Decke des Zelts. Es ist noch nicht klar, ob die Hände der beiden sich erreichen werden. Langsam nähern sie sich einander an. Und es gelingt, sie können sich fassen - das Königspaar ist wieder vereint.

Das Märchen der Gebrüder Grimm erzählt von einer Liebe, die auf eine harte Probe gestellt wird. Ohne es zu wissen, verspricht ein armer Müller seine Tochter dem Teufel. Sie entkommt, bezahlt jedoch einen hohen Preis: ihre Hände. Trotzdem verliebt sich der König in das Mädchen. Der Beelzebub lässt noch immer nicht von ihr ab und schafft es, das Paar zu entzweien. Doch der König setzt alles daran, seine Frau und den gemeinsamen Sohn zurückzugewinnen. Das Duo Gubler-Schranz spielt all seine Figuren selbst, wodurch die Intimität im Zelt noch verstärkt wird. Es braucht nur zwei Masken - schon stehen der Müller und seine Frau auf der Bühne. Der Teufel benötigt nicht viel mehr als einen roten Umhang. Ansonsten erwecken die Schauspieler das Personal allein mit starker Mimik und Gestik zum Leben.

Eine besondere Dynamik erhält das musikalisch begleitete Stück durch die Akrobatiknummern. Mitten durch den Raum ist ein Seil gespannt, das den beschwerlichen Weg des Königs auf der Suche nach seiner Familie symbolisiert. Der Teufel kann ihn nicht aufhalten, die Liebe treibt ihn voran. Elegant bewegt sich Martin Gubler-Schranz auf dem Seil, gleitet hinunter bis in den Spagat. Seine Frau spielt die Königin und hängt ungesichert in sieben Metern Höhe. Die beiden entführen ihre Zuschauer in eine phantastische Welt, in der es auch nicht verwundert, dass sich das Paar am Ende das erste Mal wirklich an den Händen berühren kann. Denn die sind der Tochter des Müllers nachgewachsen. Mit viel Humor erzählt das Ehepaar Gubler-Schranz das bekannte Märchen "Vom Fischer und seiner Frau". Es handelt sich um jenes Märchen, in dem ein armer Fischer eines Tages einen verwunschenen Prinzen an der Angel hält, ihn aber wieder schwimmen lässt. Als Lohn dafür verlangt seine Frau immer mehr - erst einen Palast, dann will sie Königin, Kaiserin, Päpstin und schließlich wie Gott werden. An diesem Punkt aber landet sie wieder in ihrer alten Fischerhütte.

Zur hellen Begeisterung der Kinder serviert der Koch des Hauses der niemals zufriedenen Königin Nudeln als Spezialität. Der Fischer will nicht König werden, sondern lieber leckeren Schokoladenpudding essen. Doch in diesem Stück wird nicht nur eifrig Quatsch gemacht und musiziert - ein wesentlicher Bestandteil sind ebenfalls die zahlreichen Akrobatiknummern. Diese bringen nicht nur die anwesenden Kinder, sondern auch die erwachsenen Besucher zum Staunen. So schlägt der Fischer einen Salto nach dem anderen vorwärts oder rückwärts, jongliert, balanciert einen Kontrabass auf seinem Kinn und trägt seine Frau wie ein lebendiges Karussell auf seinen Schultern herum. Ein kleiner Junge ruft begeistert aus: "Das ist doch kein Theater, das ist Zirkus!" Doch Theater bleibt es trotz aller Zirkusakrobatik, gerade weil in dieser Form die dominante Fischersfrau und der liebenswerte, irgendwie hilflose Fischer überzeugend dargestellt werden.

Das Ehepaar Gubler-Schranz ist in den vergangenen acht Monaten in ganz Europa aufgetreten. Ende September spielten sie bei einem internationalen Theaterfestival im brasilianischen São Paulo. Ihre Märchen präsentieren die Schauspieler in sieben Sprachen. Ihre beiden Söhne begleiten sie auf ihren Reisen. Der fünfjährige Samuel steht für kurze Auftritte bereits mit seinen Eltern auf der Bühne, macht die Königsfamilie im Stück "Das Mädchen ohne Hände" komplett. Damit die Tage auf der Postschulwiese in den Tourplan passten, teilte Frank Striegler das Dachauer Theaterfestival in zwei Abschnitte auf. Mit der Abreise der Compagnie Nicole et Martin ist der erste Teil der diesjährigen Theatertage nun beendet. Weiter geht es am Mittwoch, 7. November: Dann zeigt das Theater Triebwerk den Klassiker "Moby Dick".

Die Theatertage werden am Mittwoch, 7. November, fortgesetzt. Dann nicht mehr im Zelt, sondern an der traditionellen Stätte, im Ludwig-Thoma-Haus. Informationen zum Programm und zum Vorverkauf www.theatertage-dachau.de. Es kommen das Theater Triebwerk, das Theater Zitadelle, das Theater Geist, Luka Paka oder das Theater Fortissmo mit vielen Märchen der Gebrüder Grimm.

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