Dachau:Verständigung ohne Vorurteile

Wie die internationale Jugendbegegnung auch nach so vielen Jahren das Verhältnis zur Geschichte überdenken hilft und die Idee der Gemeinsamkeit für die Zukunft fördert

Von Anna-Sophia Lang, Dachau

Rebecca sieht nicht aus wie eine Isländerin. Ihre Haare sind nicht hellblond, sondern dunkel, ihre Augen nicht blau, sondern braun. Und sie spricht perfekt deutsch. "Um das gleich mal zu klären", sagt sie von der Bühne im Jugendgästehaus in den Saal hinaus und schmunzelt dabei spitzbübisch, "nein, ich bin nicht mit allen in Island verwandt und ich wohne auch nicht in einem Iglu." Dann ist Tom an der Reihe. "Ich bin Tom und ich komme aus den Niederlanden. Bevor ihr fragt: Nein, ich habe kein Marihuana dabei." Dafür, sagt er, kenne er jetzt Schimpfwörter in vielen verschiedenen Sprachen. Die 80 Jugendlichen, die im Saal sitzen, lachen. Aus 30 Ländern sind sie nach Dachau gereist, um an der Internationalen Jugendbegegnung teilzunehmen. Zwei Wochen lang setzen sie sich in Workshops, auf Exkursionen und in Zeitzeugengesprächen mit der Geschichte des Nationalsozialismus auseinander.

Der Abend ist schon hereingebrochen, aber es ist immer noch heiß. Viele sind nach draußen gegangen, im Jugendgästehaus ist es zu schwül und stickig. Ein Junge sitzt auf einer Bank, er spielt Gitarre. Das Mädchen neben ihm hört zu. Hinter den beiden macht sich eine Gruppe in Badehose auf den Weg Richtung Karlsfelder See. Es wird englisch gesprochen. "Schaut auf eure Nachbarn", hat der KZ-Überlebende Abba Naor appelliert. "Seht sie nicht als jemanden aus einem anderen Land, mit einer anderen Religion oder einer anderen Hautfarbe. Seht sie als Menschen." Und der Dachauer Oberbürgermeister Florian Hartmann hat gesagt: "Wenn durch diese Begegnungen hier ein schlimmes Schicksal in der Welt vermieden werden kann, dann hat die Jugendbegegnung ihr Ziel erreicht."

Dachau: Der Zeitzeuge Abba Naor im Gespräch mit Jugendlichen aus 30 Ländern in Dachau.

Der Zeitzeuge Abba Naor im Gespräch mit Jugendlichen aus 30 Ländern in Dachau.

(Foto: Toni Heigl)

Christina Ulbricht gehört mit ihren 26 Jahren zu den ältesten Teilnehmern. Sie ist eine von nur vier Deutschen dort. Seit Anfang des Jahres ist sie häufig in der Dachauer KZ-Gedenkstätte. In ihrer Dissertation stellt sie die Frage, warum sich Jugendliche mit dem Nationalsozialismus beschäftigen und wie sie das Gedenken heute weitertragen. Am ersten Tag traf sie auf eine Amerikanerin und eine Spanierin. Eigentlich, erzählten die beiden ihr, hätten sie nach Australien reisen wollen. Doch das Geld reichte nicht - so wurde es am Ende Dachau. Inzwischen hat Christina festgestellt, dass es bei der Jugendbegegnung zwar auch um Spaß und Freizeit geht, aber trotzdem eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Geschichte stattfindet. Immer wieder ist sie überrascht von den Blickwinkeln der Jugendlichen aus anderen Ländern. "Jedes Land geht mit seiner Geschichte anders um", sagt sie. Das spiegelt sich in der Herangehensweise der Jugendlichen wider. "Die Amerikaner sind die Befreier. Die wollen dann sehen, wo der Opa das KZ befreit hat."

Das Arbeitslager in Utting am Ammersee gehörte zum Verbund der Kauferinger Außenlager des Konzentrationslagers Dachau. Im Bus haben die Jugendlichen, die mit auf die Exkursion gekommen sind, noch laut Lieder gesungen. Jetzt sind sie ganz still. Die Grabsteine liegen im Schatten der hohen Bäume, die den kleinen Friedhof umgeben. Einer nach dem anderen hebt graue Kiesel vom Boden auf und legt sie auf die Gräber. Nicht alle können die eingemeißelten hebräischen Schriftzeichen lesen, die vom Schicksal der Häftlinge erzählen, die hier begraben liegen. Oren Richter und Tal Gamzon gehören zu denen, die den anderen Jugendlichen übersetzen, was da steht - Namen, Lebensdaten, Widmungen. Die beiden sind 17 Jahre alt und kommen aus Israel. An solchen Orten fühle sich das Geschehene realer an, sagt Oren. Und Tal fügt hinzu: "Man spürt den Tod und den Schmerz. Es ist mehr fühlen als wissen."

Dachau: Christina Ulbricht forscht über die Einstellung deutscher Jugendlicher zur NS-Geschichte.

Christina Ulbricht forscht über die Einstellung deutscher Jugendlicher zur NS-Geschichte.

(Foto: Toni Heigl)

Gemeinsam mit zehn anderen jungen Israelis sind sie zur Jugendbegegnung gekommen, davor haben sie an einem Schüleraustausch mit dem Gautinger Otto-von-Taube-Gymnasium teilgenommen. Alle zwölf Jugendlichen haben Familie im Holocaust verloren. Bei einer Diskussionsrunde in der Schule sagt eine Schülerin aus der Gruppe, sie habe Angst gehabt, nach Deutschland zu kommen. "Am Anfang bin ich jedes Mal zusammengezuckt, wenn ich am Flughafen jemanden deutsch sprechen gehört habe", sagt die Schülerin. Die Sprache derer, die ihrer Familie unendliches Leid zufügten. Auch der Lehrer, der die Gruppe begleitet, erzählt von seiner Angst, als er vor zehn Jahren das erste Mal nach Deutschland kam. Dann lernte er Deutsche kennen. Und seine Angst verschwand. "Es braucht nicht viele Worte", sagt er, "man muss es fühlen."

Im Jugendgästehaus ist es fast unerträglich heiß, die Sonne brennt auf das Glasdach. Auf den Bänken und Stühlen lümmeln sich die jungen Menschen, laufen in kleinen Grüppchen barfuß kreuz und quer durch die Halle, rufen von der Brüstung herunter. Oren sieht müde aus, als wäre er nach einer durchfeierten Nacht gerade erst aufgewacht. 1936 ist seine Urgroßmutter nach Israel geflohen. Ihre ganze Familie wurde von den Nazis ermordet. Einer seiner Urgroßväter hatte zwölf Geschwister, kein einziger hat überlebt. "Ich habe eine sehr persönliche Beziehung zur Jugendbegegnung", sagt Oren, "ich habe mich schon sehr früh mit der Geschichte beschäftigt, habe alles gelesen, was ich gefunden habe." Tals Mutter kommt aus Hamburg, ihre deutsche Großmutter lebt noch. "Sie redet nie über das Schlimme, was während der Zeit der Nationalsozialisten passiert ist. Sie erzählt nur andere Geschichten", sagt Tal, "Wahrscheinlich musste sie das tun, um weiterleben zu können." Eine ihrer Urgroßmütter kommt aus Polen, sie ist heute 97. Von ihr hat Tal einiges erfahren. Die anderen Urgroßeltern waren im französischen Widerstand, sie haben Bücher geschrieben. Tal und Oren haben Zeitzeugen in der eigenen Familie. Und sie haben schon viele andere Überlebende getroffen. Der Holocaust, erzählen sie, sei das größte Thema im Geschichtsunterricht. "Trotzdem ist es immer wieder gut, die Geschichten zu hören", sagt Oren, "sie sind immer anders, egal, wie oft sie erzählt werden."

Dachau: Auch Esther Bejarano ist eine Zeitzeugin.

Auch Esther Bejarano ist eine Zeitzeugin.

(Foto: Toni Heigl)

Zuhören gibt ihm das Gefühl, die Geschichten geschenkt bekommen zu haben. Er sieht es als seine Aufgabe an, sie weiterzuerzählen. Beim Zeitzeugen-Café im Jugendgästehaus beugt er sich tief über den Tisch, um die Frau zu verstehen, die die Erzählungen der Widerstandskämpferin Mirjam Ohringer ins Englische übersetzt. "Wir können die Menschen nicht zurückbringen", sagt Tal, "aber wir können die Erinnerung an sie wachhalten."

Christina sitzt am Tisch der Auschwitz-Überlebenden Esther Bejarano, die zum ersten Mal zur Jugendbegegnung gekommen ist. "Wann haben Sie sich wieder frei gefühlt?", will sie wissen. Sie will ihren Teil beitragen, damit sich die Geschichte nicht wiederholt. "Ihr seid unsere Hoffnung", hat Mirjam Ohringer gesagt. Christina will ihr gerecht werden. Wenn sie in der Gedenkstätte ist, wird ihr in aller Schmerzlichkeit bewusst, wie sehr Menschen und Werte an diesem Ort versagt haben. "Es hört nicht auf, schwer zu sein", sagt sie. "Spätestens am Krematorium kommen dir die Bilder wieder in den Kopf." Wenn sie sich dann im Alltag über Kleinigkeiten ärgert, zweifelt sie an sich. Dann hat sie Angst, selbst nicht besser zu sein.

In den Workshops während der zwei Wochen ist ihr aufgefallen, dass die Frage nach der Schuld in den Köpfen deutscher Jugendlicher viel präsenter ist als bei anderen. "Vielleicht hat das mit der Angst zu tun, dass Vorurteile auf sie übertragen werden, die vor Generationen entstanden sind", sagt sie. Schuld ist für Tal, Oren und den Rest der Gruppe aus Israel nichts, das deutsche Jugendliche noch fühlen sollten. "Es tut mir weh, das zu hören", sagt ein Mädchen aus der Gruppe bei der Gesprächsrunde im Gautinger Gymnasium. Trotzdem gebe es immer noch Israelis, die Vorurteile hätten, sagt Tal. "Deshalb ist es wichtig, selbst zu erleben, dass die Leute hier nicht die gleichen von vor 70 Jahren sind."

Dachau: Oren Richter und Tal Gamzon aus Israel.

Oren Richter und Tal Gamzon aus Israel.

(Foto: Toni Heigl)

Christina hätte sich gewünscht, dass der Geschichtsunterricht in der Schule mehr wie die Workshops der Internationalen Jugendbegegnung ausgesehen hätten. Denn sie hat die Erfahrung gemacht, dass sich viele Schüler von den Lehrplänen überfrachtet fühlen - und zusätzlich von Hollywoodfilmen mit der moralischen Keule erschlagen, wenn da die Rede von den Deutschen ist. Auch Oren spricht davon, dass das Lernen bei der Internationalen Jugendbegegnung ein anderes ist als sonst. Philosophischer nennt er es, perspektivenreicher. Auch durch die Gruppe. "Es ist schön zu sehen", sagt Tal, "dass wir alle irgendwie gleich sind." Jugendliche aus Israel, erzählt sie, würden manchmal nur von Gedenkstätte zu Gedenkstätte reisen, wenn sie nach Europa kommen, und ganz unter sich bleiben. Tal und Oren sind froh, dass es bei ihnen anders gelaufen ist. "Man lernt nicht viel, wenn man an sieben Tagen sieben Lager sieht. Das ist nur Schock."

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