Dachau:Reise in die Vergangenheit

"Dieser Ort bringt meine Gedanken zurück in meine Jugend." 350 jüdische Kantoren besuchen die KZ-Gedenkstätte Dachau. Viele hatten Angehörige, die in Konzentrationslagern ermordet wurden.

Julia Richthammer ;

Sidney Bari schluckt, als er langsam durch die Baracke der KZ-Gedenkstätte Dachau läuft. Die karge Einrichtung, die schmalen Betten, die eng nebeneinander und übereinander die Zimmer füllen - das alles hat er mit eigenen Augen noch nie gesehen. Doch er kannte die Umstände, unter denen die Gefangenen im Konzentrationslager hausen mussten, aus Briefen seiner Verwandten. Sidney hieß früher einmal Siegfried und wurde 1922 in Hamburg geboren. Seine Familie floh vor den Nazis, als Sidney sechzehn Jahre alt war, und wanderte nach Amerika aus. Doch nicht die ganze Familie Bari konnte sich retten. Sids Großeltern, sein Onkel und seine Tante starben im KZ Theresienstadt.

Dachau: Erinnerung war der zentrale Begriff der Gebete bei der liturgischen Feier der jüdischen Kantoren aus den USA auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers. So mancher der Besucher hielt das Ereignis im Bild fest.

Erinnerung war der zentrale Begriff der Gebete bei der liturgischen Feier der jüdischen Kantoren aus den USA auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers. So mancher der Besucher hielt das Ereignis im Bild fest.

(Foto: © joergensen.com)

Die Briefe, die seine Verwandten aus dem Lager schickten, hat der 89-Jährige bis heute bewahrt, "auf atemdünnem Papier", wie er auf Deutsch erzählt. Damals war es sehr schwierig, nach Amerika auszuwandern. Pro Person mussten 10 000 Dollar in Amerika vorhanden sein, ansonsten war die Einwanderung nicht erlaubt. Das Geld reichte nicht, die Familie musste sich trennen. Sidneys Vater und sein älterer Bruder verließen Deutschland zuerst, sechs Monate später folgte der Rest der Familie. Damals war es Sid nicht bewusst, "als 16-Jähriger habe ich mich mehr für Sport interessiert als für Politik", aber er, seine Mutter und sein Bruder hätten ebenso deportiert werden können wie seine Großeltern.

Heute ist ihm das klar, und beim Rundgang in der KZ-Gedenkstätte lässt ihn ein Gedanke nicht mehr los: "Gott war auf unserer Seite". Sidneys erster Besuch in Dachau findet im Rahmen einer Reise ("Musical Journey of Heritage and Healing") von mehr als 350 jüdischen Kantoren durch Deutschland und Israel statt. Kantoren sind die Vorbeter in Synagogen, die die jüdische Gemeinde durch ihre Liturgie führen. Eine solche hält auch die Gruppe Dachau ab, auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte neben dem jüdischen Mahnmal. Wo in christlichen Messen Gebete ruhig vorgetragen werden und Lieder meist davon getrennt sind, scheint die jüdische Liturgie ein einziger Gesang zu sein. Die Gebete werden von allen Teilnehmern gemeinsam gelesen, in einem melodischen Singsang, oder eine Kantorin singt den Hauptteil und die Gemeinde antwortet ebenfalls singend. Gesprochen werden fast nur Ansagen, auf welcher Seite es weiter geht, oder die Aufforderung zum Aufstehen. Das Kaddisch sprechen Überlebende und deren Verwandte für ihre Toten; die Kantoren, die eine Verbindung mit Dachau haben, treten nach vorne, um Kerzen anzuzünden.

Der zentrale Begriff aller Gebete ist "remember". Erinnern. "Erinnert euch daran, was hier passiert ist. Erinnert euch an die unschuldigen Opfer, die sterben mussten". Genau deshalb ist Nancy Kurtcman bei der Reise dabei. Sie hat keine persönliche Verbindung mit Dachau, ihre Familie floh vor Kriegsbeginn aus Polen. "Es ist wichtig, sich zu erinnern, hier zu sein. Und ich freue mich zu sehen, dass es den Deutschen auch wichtig ist." Auch für Nancy ist es der erste Besuch in Dachau, auch für sie ist es eine emotionale Erfahrung. Sie sei aber froh, diese Erfahrung in der Gruppe, gemeinsam mit Menschen aus ihrer Kirche zu machen. Auch Sidney Bari ist überwältigt: "Es ist unglaublich zu wissen, was hier passierte. Das Gelände ist so riesig, die Menschen damals haben gesehen, es hat gar kein Ende. Das muss sie verrückt gemacht haben." Trotzdem gehen die Kantoren ohne Schuldvorwürfe und Groll an ihre Reise heran. Im Gegenteil: Sie wollen mit Vorurteilen aufräumen, Toleranz fördern und mit Musik Mauern einreißen. Die Mauer zu Sidneys Vergangenheit ist in jedem Fall eingerissen: "Dieser Ort bringt meine Gedanken zurück in meine Jugend."

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