Dachau:Lesen als Erlebnis

Das Dachauer Literaturfestival mit Daniel Kehlmann als erstem Autor und einer eindringlichen Präsentation von Herrndorfs Geschichte über Isa. Die Veranstaltungsreihe gewinnt an Zuspruch.

Von Angelika Aichner

Dachau - Das Dachauer Literaturfestival gewinnt nach dem ersten, zögerlichen Anlauf im vergangenen Jahr zusehends an Resonanz. Die Lesung von Daniel Kehlmann im Ludwig-Thoma-Haus war sehr gut besucht. Und das Josef-Effner-Gymnasium schloss sich gleich mit einer eigenen Lesung zu Wolfgang Herrndorfs letztem Roman "Bilder deiner großen Liebe" an.

Einige nuckeln an einer Bierflasche, jemand trinkt ein Glas Rotwein - sie sitzen da und starren gierig auf die Bühne. Sie warten auf den Mann, der quasi ein literarischer Held ist, der Romane - ja, man möchte beinahe Klassiker sagen - wie "Ich und Kaminski" und "Die Vermessung der Welt" geschrieben hat. Sie warten auf Daniel Kehlmann, der schließlich, etwas scheu und zaghaft, auf die Bühne tritt. Heute werde er "für längere Zeit oder überhaupt das letzte Mal" aus dem Buch vorlesen, über dessen Titel sehr viel spekuliert wurde. Es geht um "F", das vor zwei Jahren veröffentlicht wurde. Ja, der Buchstabe könne für Fälschung stehen, für Fatum - das lateinische Wort für Schicksal -, aber im Grunde meine er doch F wie Friedland oder eben Familie. "Das ist jetzt mein - formal gesehen ungewöhnlicher - Familienroman", sagt er, ein wenig feixend, ein wenig stolz.

Kehlmann erzählt in "F" über die Familie Friedland; über den Vater Arthur, die Söhne Martin, Eric und Iwan. Die vier sind sehr verschieden und einander doch ähnlich, weil sie alle Scharlatane sind. Arthur schreibt Bücher. Der dickleibige Martin predigt über Gott, auch wenn er nicht an ihn glaubt. Eric, der Finanzberater ist, gaukelt seinem Kunden vor, dass dessen Vermögen nicht verloren sei. Und Iwan fälscht in seinem Atelier Bilder, um als Kunstkritiker über sie schreiben zu können.

"F" ist ein Roman, der stellenweise sehr komisch ist - gerade wenn es um den paranoiden Eric geht oder darum, wie Martin ständig versucht, seinen Hunger zu stillen. Vor allem ist der Roman aber sehr ruhig und klug. Das beweist schon der Beginn, der ein bisschen an den fabelhaften Anfang von Leo Tolstois "Anna Karenina" erinnert: "Jahre später, sie waren längst erwachsen und ein jeder verstrickt in sein eigenes Unglück."

Der Text funktioniert auf jeden Fall wunderbar, so wie er ist. Nur wird er sehr viel schöner, wenn Kehlmann ihn liest. Steht er am Lesepult und trägt Passagen aus "F" vor, ist es beinahe so, als werde er selbst zu einem der Friedlands. Er murmelt, spricht lauter, mal schneller, mal langsam; er fuchtelt mit den Händen, guckt ängstlich, belustigt, cool, er grient und lacht. Er hat das alles drauf; der Text lebt durch ihn. Das Publikum honoriert das mit frenetischem Applaus.

Dachau liest

Das Publikum im Thoma-Haus war von Daniel Kehlmann, der aus seinem Roman "F" las, begeistert.

(Foto: Niels P. Jørgensen)

Ein wenig gilt der auch der Stadt, weil sie Kehlmann darum gebeten hat, die zweite Ausgabe des Literaturfestivals "Dachau liest" - nach dem holprigen Beginn im vergangenen Jahr - zu eröffnen. Es war sehr clever, Kehlmann zu wählen, einen Schriftsteller, über den Marcel Reich-Ranicki sagte: "Daniel Kehlmann kann erzählen, und zwar vorzüglich, er ist intelligent, und zwar außerordentlich, er hat Phantasie, und zwar eine ungewöhnliche." Der Saal im Ludwig-Thoma-Haus ist jedenfalls fast voll. Das ist schön und zeigt, dass Literatur nach wie vor ankommt.

Zwischen den zwei Passagen, die Kehlmann vorliest, reden er und Knut Cordsen vom Bayerischen Rundfunk, der die literarische Veranstaltung moderiert, über das Buch und auch darüber, wie es ist, ein renommierter Autor zu sein. "Das ist die angenehmste Art, bekannt zu sein", so Kehlmann, "weil kein Mensch bekannte Schriftsteller kennt." Er ist froh, dass man ihn auf der Straße kaum erkennt, selten anspricht. Das passt zu ihm, denn so scharfsinnig und scharfzüngig er auch schreibt, so ist er doch ein wenig zurückhaltend. Es scheint ihm beinahe unangenehm zu sein, wenn Cordsen ihn und seine "unheimliche Dialogkunst" lobt; er starrt dann auf das schwarze Tischtuch, er sieht dann ganz anders aus, als wenn er am Lesepult steht, ein wenig jünger vielleicht. Weil das nicht so recht zusammenpassen will, drängt sich die Frage auf, ob er nicht selbst etwas vorgaukle. Zweifelsohne, sagt Kehlmann, seien Künstler immer auch Hochstapler, aber die edleren. Er schließe mit dem Publikum ja einen Pakt: "Wir tun so, als sei das, was ich schreibe, wahr." Literatur sei, Kehlmann zitiert den peruanischen Schriftsteller Mario Vargas Llosa, nicht dazu da, um die Wahrheit zu sagen, sie sei dazu da, um zu lügen. Cordsen attestiert Kehlmann , ein "höchst erfolgreicher Betreiber von Spiegelkabinetten" zu sein.

Weil die Organisatoren des Literaturfestivals nicht nur ein erwachsenes Publikum erreichen wollen, fand tags darauf im Josef-Effner-Gymnasium eine weitere Lesung zum fragmentarischen Roman "Bilder deiner großen Liebe" von Wolfgang Herrndorf statt. "Keine Fragmente aufbewahren, niemals Fragmente veröffentlichen", schrieb dieser im Sommer 2013 in sein Testament, wenige Wochen bevor er sich erschoss - er litt unter einem unheilbaren Gehirntumor. Vor seinem Tod entschied er dann doch, dass die Geschichte über Isa, das Mädchen von der Müllhalde aus "Tschick", veröffentlicht werden soll.

Liiteratur Lesung

Olga von Luckwald trug im Josef-Effner-Gymnasium aus Herrndorfs fragmentarischen Roman "Bilder deiner großen Liebe" vor.

(Foto: Niels P. Jørgensen)

Mit der Road Novel war ihm 2010 der Durchbruch gelungen. Darin erzählt er wie Maik Klingenberg und Andrej Tschichatschow, den alle Tschick nennen, in einem geklauten Lada durch Ostdeutschland fahren. Dabei treffen sie auch Isa Schmidt. "Die ist abgedreht. Tolle Figur, aber voll assi", sagt Tschick über sie. Auch wenn es in "Die Bilder deiner großen Liebe" um Isa geht, der Duktus der beiden Texte ist doch verschieden: "Die Lebenszugewandtheit bei 'Tschick' fehlt bei Isa fast völlig'', sagt der Literaturkritiker Thomas Kraft. Schauspielerin Olga von Luckwald beweist das; sie trägt einzelne Passagen des Textes vor als wäre sie Isa.

Später projiziert Kraft dann noch einige Bilder aus dem Leben von Herrndorf an die Leinwand: wie er sich über den Publikumspreis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb freut; wie er einfach nur dasteht und lacht in seiner grünen Trainingsjacke; sein Kopf nach einer Operation - kahl und zerbrechlich; und schließlich ein Kreuz am Ufer des Kleinen Wannsees, wo er sich erschoss. Im Hintergrund läuft Syd Barrett.

Dachau liest. Städtisches Literaturfestival: Elisabeth Herrmann und ihre Berliner Kriminalromane, Samstag, 10. Oktober, 16 Uhr, Stadtbibliothek. Ilija Torjanow "Macht und Widerstand", Lesung am Sonntag, 11. Oktober, 16 Uhr, ebenfalls Stadtbücherei, Münchner Straße 7 a.

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