Dachau:Ein therapeutisches Gerichtsurteil

Er lebt in den Tag hinein, ohne Arbeit, trinkt zu viel und fühlt sich als Verlierer: Ein 18-Jähriger, der sich wegen eines Gewaltausbruchs verantworten muss, erhält die Chance, sein Leben in die Hand zu nehmen.

Wolfgang Eitler

Die entscheidende Frage lautet: Warum hat ein 18-jähriger Mann sich so betrunken, dass er einen Unterstand für Einkaufswagen vor einem Dachauer Supermarkt zerstörte? Warum rief er plötzlich, dass er sich von einer Eisenbahnbrücke stürzen will? Warum begann er, wie wild loszuschlagen, nachdem ihn ein Notarzt des Roten Kreuzes in einem Rettungswagen versorgt hatte? Vier Polizisten waren nötig, um ihn zu fesseln und auf die Wache zu bringen.

Das Datum der Delikte, der 28. Juni 2012, der Tag der Niederlage von Deutschland gegen Italien im Halbfinale bei der Europameisterschaft, ist nur eine dürftige Erklärung. Dazu ist der 18-Jährige zu wenig Fußball-Fan. Er schlug auf Polizisten ein, und er malträtierte seine eigenen Freunde, die ihn auf dem Gelände der Feuerwehr an der Amper zu Boden gedrückt hatten. Sie hatten Angst, dass er sich etwas antun könnte.

Amtsrichter Lars Hohlstein fragt den Angeklagten: "Warum sind Sie gegen Personen vorgegangen, die Ihnen helfen wollten?" Der 18-jährige Mann antwortet: "Weiß ich nicht. Hatte einen kompletten Blackout. Schlagen ist nicht mein Fall. Ich werde immer geschlagen." Schmächtig sieht der junge Mann mit seiner untersetzten kräftigen Figur nicht aus. Marina Nalbach von der Organisation Brücke für straffällig gewordene Jugendliche erläutert Charakter und soziale Verhältnisse des Angeklagten. Er ist arbeitslos, die Lehre als Metzger brach er ab, eine Beschäftigung im Straßenbau dauerte nur eine kurze Zeit. Und so lebt er halt dahin, in den Tag hinein ohne Arbeit, er meldet sich nicht einmal mehr beim Arbeitsamt. Richter Hohlstein fragt: "Warum machen Sie nichts?" Der 18-Jährige: "Weil ich zu faul bin." Der Richter: "Faulsein ist die eine Sache. Aber man will aus dem Leben doch auch etwas machen." Der junge Mann nickt. Der Richter: "Dann hat man doch keine Lust mehr, faul zu sein." Der Angeklagte nickt. Der Richter vermutet: "Gibt es denn Hindernisse, vielleicht die Bewerbungen?" - "Ja, die Bewerbungen."

Die Befragung durch den Richter gewährt einen Einblick in die Passivität und das Gefühl der Ohnmacht des jungen Mannes. Gerichtshelferin Marina Nahlbach sieht das große Problem in der Strukturlosigkeit des Alltags ohne Job und ohne abgeschlossene Ausbildung. Dazu kommt ihrer Ansicht nach die jahrelange Gängelung wegen sprachlicher Probleme in der Kindheit.

Was ist Ursache? Was Wirkung? Kommt zuerst die Alkoholsucht und dann die Ohnmacht? Oder ist es umgekehrt. Marina Nahlbach zeigt sich zuversichtlich, dass mit einem festen Job und einer Suchtberatung, die der junge Mann schon freiwillig bei der Caritas besucht, jener äußere Tagesablauf zu schaffen ist, der den 18-Jährigen auch im Innern stärkt: "Es geht darum, dass der eine Arbeit bekommt." Seinem gewalttätigen Ausbruch bezeichnet sie als "Ausdruck" der inneren Leere. Darin stimmt sie mit Richter und Staatsanwaltschaft überein.

Das Urteil wird zum Versuch eines Einstiegs in den Ausstieg aus dem Kreislauf von Alkohol, Arbeitslosigkeit und dem Gefühl, ein Verlierer zu sein. Der Angeklagte muss eine Woche Sozialdienst bei der Brücke leisten. Er bekommt einen Betreuer von dieser Organisation zugewiesen, der ihn auf der Arbeitssuche begleitet und ihn auch berät. Richter Hohlstein hofft: "Vielleicht werden die psychischen Probleme weniger."

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