Dachau:Die letzte der einst Vertriebenen

Sie war die letzte Überlebende der jüdischen Bürger, die 1938 aus Dachau vertrieben wurde. Ruth Locke, geborene Neumeyer, starb im Alter von 89 Jahren.

Hans Holzhaider

Stolpersteine

Ruth Locke im Jahr 2005 bei der Verlegung der Stolpersteine vor ihrem Elternhaus in der Hermann-Stockmann-Straße.

(Foto: DAH)

- Sie war die Letzte: die letzte Überlebende der jüdischen Bürger, die im November 1938 aus Dachau vertrieben wurde. Ruth Locke, die Tochter von Hans und Vera Neumeyer, war 16 Jahre alt, als ihre Eltern sie und ihren jüngeren Bruder Raimund in den Zug setzten, der sie nach Hoek van Holland bringen sollte. Von dort setzten sie nach England über. Ihre Eltern sahen sie nie wieder. Ruth und Raimund Neumeyer fanden in England eine neue Heimat. Raimund starb 2011, am 19. November 2012 ist nun auch, wie erst jetzt bekannt wurde, Ruth im Alter von 89 Jahren gestorben.

Dachau im November 1938: Noch hatte die Verfolgung der Juden in Deutschland nicht mit ihrer vollen mörderischen Wucht eingesetzt, noch konnten sich die wenigen jüdischen Bürger, die in Dachau lebten, nicht vorstellen, dass nicht nur ihre bürgerliche Existenz, sondern auch ihr Leben bedroht war. "Das kann doch nicht so schlimm werden, sagte Vera Neumeyer einmal zu ihrem Hausmädchen, "wir sind doch nicht reich, wir haben doch nichts getan, die können uns doch nichts anhaben." Dabei hatte die Familie Neumeyer schon einen Vorgeschmack davon bekommen, wozu die neuen Machthaber fähig waren. Im Haus der Neumeyers in der heutigen Hermann-Stockmann-Straße herrschte ein reges kulturelles Leben. Hans Neumeyer, der seit seiner Jugend blind war, hatte Musik studiert und komponierte; Vera Neumeyer gab den Damen der Dachauer Künstlergesellschaft Unterricht in Tanz und Gymnastik. In einer Nacht im Januar 1938 wurde bei Neumeyers gerade einmal wieder Theater gespielt, ungefähr 40 Gäste waren da, als Polizisten und SA-Leute ins Haus stürmten und die Gäste verjagten. Sie sollten sich schämen, im Haus eines Juden zu verkehren, brüllten die Eindringlinge, und den Untermieter Julius Kohn nahmen sie einfach mit und sperrten ihn für ein paar Tage ins Gefängnis.

Am Abend des 8. November 1938, 24 Stunden, ehe die SA-Horden in der später im NS-Propagandajargon so getauften "Reichskristallnacht" plündernd und brandschatzend durch die deutschen Städte zogen, machten zwei SA-Männer die Runde bei den Dachauer Juden: bei der Familie Wallach und der Familie Neumeyer in der Hermann-Stockmann-Straße, bei der jungen Privatsekretärin Johanna Jaffé in der Taubenbergerstraße, bei dem alten Ehepaar Meinhold und Julie Rau in der Weinmannstraße, und bei dem hochbetagten ehemaligen Zeitungsverleger Heinrich Hirsch in der Münchnerstraße. "Vor Sonnenaufgang" des nächsten Tages hätten sie die Stadt zu verlassen, befahlen die Männer, sonst müssten sie "gewärtig sein", ins Gefängnis zu kommen. Am 20. Januar 1939 schrieb der Dachauer Bürgermeister und SA-Standartenführer Hans Cramer an den NSDAP-Kreisleiter Hans Eder: "Die Stadt Dachau ist somit heute völlig judenfrei."

So wie Ruth und Raimund Neumeyer konnte sich auch der 14-jährige Franz Wallach, Johanna Jaffé und das Ehepaar Rau nach England retten. Max Wallach und seine Ehefrau Melly, die in der Stockmannstraße eine Stoffdruckerei betrieben , wurden ebenso wie Julius Kohn in Auschwitz ermordet. Hans Neumeyer, der blinde Musiklehrer, wurde nach Theresienstadt deportiert und starb dort 1944 an Tuberkulose. Vera, seine Frau, wurde vermutlich nach Piaski in Polen deportiert und später im Vernichtungslager Majdanek ermordet. In England musste sich Ruth Neumeyer ein neues Leben aufbauen. Sie wurde Lehrerin, heiratete, zog drei Söhne groß. Es war nicht immer leicht. "Immer war man ein Außenseiter", erzählte sie später. "Alle waren katholisch, man war evangelisch. Dann war man plötzlich nicht mehr deutsch, sondern jüdisch. Und in England war man wieder deutsch." 50 Jahre nach ihrer Vertreibung kam Ruth Neumeyer zum ersten Mal wieder nach Dachau, zur Eröffnung der Ausstellung "Dachau ist somit judenfrei" im Dachauer Rathaus. Es war kein leichter Entschluss, insbesondere nachdem es in der Stadtverwaltung ein etwas unwürdiges Gezerre um die Errichtung einer Gedenktafel für die ehemaligen jüdischen Bürger gegeben hatte. 17 Jahre später, als der Dachauer Stadtrat einstimmig die Verlegung der "Stolpersteine" vor den Häusern der früheren jüdischen Bürger beschlossen hatte, war alles schon viel leichter. Ruth Locke brachte ihren Sohn Nicolas mit nach Dachau, und Frank Wallace, (ehemals Franz Wallach), der in England Karriere als Professor für Maschinenbau gemacht hatte, kam mit seiner Frau. Sie reisten wieder ab mit dem Gefühl, dass wenigstens dieser Teil der Geschichte ein gutes Ende gefunden hatte.

Der alte Justizrat Rau starb noch während des Krieges 1941 in England, seine Frau Julie 16 Jahre später. Johanna Jaffé starb 1987 im 89. Lebensjahr; sie war nie mehr nach Deutschland gekommen. Professor Wallace starb 84-jährig im Januar 2009. Nach dem Tod ihres Bruders Raimund war Ruth Locke, geborene Neumeyer, die letzte der einst Vertriebenen. Die Stadt Dachau hat guten Grund, sich mit Respekt und Dankbarkeit an sie zu erinnern.

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