Dachau:Der NSU-Schock

Marcus Buschmüller und Robert Andreasch im Aida-Archiv, 2015

Beim Runden Tisch gegen Rassismus informiert Robert Andreasch über Netzwerke der Neonazis.

(Foto: Florian Peljak)

Das Phänomen Rechtsterrorismus wird nach Ansicht des Experten Robert Andreasch immer noch unterschätzt

Von WALTER GIERLICH, Dachau

Obwohl Dachau mit seiner Geschichte ein historisch sensibler Ort ist, ist die Stadt in den vergangenen Jahrzehnten von wirklich schweren rechtsextremistischen Anschlägen und Verbrechen verschont geblieben. Was nicht heißt, dass es nicht immer wieder neonazistische Vorfälle gegeben hätte, von Hakenkreuzschmierereien und Bedrohungen des selbstverwalteten Jugendzentrums Freiraum bis hin zum möglicherweise von Rechtsradikalen verübten Diebstahl des Eingangstors der KZ-Gedenkstätte.

So manchem Zuhörer dürfte es daher angesichts dessen, was der Journalist und Rechtsextremismus-Experte Robert Andreasch bei einer Veranstaltung des Runden Tischs gegen Rassismus im Freiraum über Netzwerke der Neonazis und deren terroristische Konzepte berichtete, kalt den Rücken heruntergelaufen sein. Die Mordserie des NSU war den Besuchern präsent, ebenso das von Rechtsradikalen begangene Oktoberfestattentat mit 13 Toten und mehr als 200 Verletzten. Doch viele andere Taten von Neonazis seien längst in Vergessenheit geraten, wie Andreasch anmerkte. So etwa die Mordserie der aus zwei Münchner Studenten bestehenden "Gruppe Ludwig" in den Siebziger- und Achtzigerjahren: 14 Menschen in Oberitalien und München fielen ihnen zum Opfer.

Mitglieder der "Wehrsportgruppe Hoffmann", einer bewaffneten Neonazi-Truppe, verübten unter anderem 1976 einen Bombenanschlag auf den amerikanischen Radiosender AFN in München und ermordeten 1980 mit einer Pistole Hoffmanns in Erlangen den Rabbi Shlomo Levin und dessen Lebensgefährtin Frieda Pöschke. Die Polizei habe gegen den Doppelmörder nicht im Neonazi-Milieu ermittelt, sondern lange Zeit innerhalb der jüdischen Gemeinde der mittelfränkischen Universitätsstadt gesucht, sagte Andreasch und verwies auf die Analogie zu den NSU-Morden, wo ebenfalls jahrelang nicht nach politischen Hintergründen gesucht wurde. Stichwort Dönermorde. 1981 erschoss ein Mitglied der rechtsextremen Münchner Volkssozialistischen Bewegung zwei Schweizer Grenzbeamte, die ihn beim Waffenschmuggel erwischt hatten. Auch diese Tat ist weitgehend vergessen.

In den Neunzigerjahren dann habe sich die Neonazi-Szene weiter radikalisiert, erklärte der Referent, etwa der Thüringer Heimatschutz, aus dem der Nationalsozialistische Untergrund hervorging. Mit dabei laut Robert Andreasch stets V-Leute verschiedener Verfassungsschutzämter. Mehr als 500 Brandanschläge und Tausende gewalttätige Attacken durch Neonazis pro Jahr habe man damals gezählt, so der Experte, der auch für die Antifaschistische Informations-, Dokumentations- und Archivstelle (Aida) in München arbeitet. Mit der Radikalisierung sei spätestens von 1995 an eine breite Diskussion terroristischer Konzepte einhergegangen. Unter Neonazis kursierte etwa die mehrbändige Broschüre "Eine Bewegung in Waffen", in der es unter Bezugnahme auf Anweisungen eines SS-Mannes für den Guerillakrieg aus den Dreißigerjahren heißt: "Der Werwolf der Zukunft ist ein Feierabend- und Wochenendterrorist". Gefordert wer-den hier unter anderem Banküberfälle, um "den Einsatzgruppen finanzielle Spielräume zu schaffen". Banküberfälle seien laut Andreasch von Neonazis tatsächlich sehr viele begangen worden, selten hätten Sicherheitsbehörden sie aber mit Rechtsterroristen in Verbindung gebracht. Auch hier komme einem sofort der NSU in den Sinn. Schließlich hätten sich Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt im Untergrund durch Überfälle auf Geldinstitute finanziert. Ebenfalls sehr beliebt unter Neonazis sei ein im Kalten Krieg erschienenes Buch der Schweizer Armee mit dem Titel "Der totale Widerstand. Kleinkriegsanleitung für Jedermann".

Noch deutlicher seien die Parallelen zwischen dem Vorgehen des NSU und dem Konzept, wie es der terroristische Held im Roman "Die Turner Tagebücher" befolgt, den ein amerikanischer Nazi in den Siebzigerjahren geschrieben hatte. Dieses Buch wurde erst 2006 in Deutschland indiziert, was aber nicht bedeutet, dass Neonazis es sich nicht beschaffen könnten. Darin führt der Titelheld mit seiner Gruppe aus dem Untergrund einen Kleinkrieg mit Sabotageakten und Attentaten gegen das "System". Zufällig unter Juden und Schwarzen Ausgewählte werden immer mit derselben Waffe ermordet, ohne dass es Bekennerschreiben gibt. Die Polizei soll über die Täter rätseln, das Ganze soll eine Eskalationsspirale in Gang setzen und schließlich zu einem Rassekrieg führen. Das allerdings sei dem NSU bei weitem nicht gelungen. Und ob der Roman tatsächlich als Handlungsanleitung gedient habe, darüber könne er nur spekulieren, beweisen lasse sich das nicht, sagte Andreasch. Jedenfalls wird seiner Ansicht nach das Phänomen Rechtsterrorismus immer noch unterschätzt - trotz der erschreckenden Erkenntnisse aus dem NSU-Prozess und 2000 Waffenfunden allein im Jahr 2015.

Auf die Frage aus dem Publikum, wie das Verhältnis der gewaltbereiten Neonazis zu rassistischen Bewegungen wie Pegida oder zur sich bürgerlich gebenden AfD sei, erklärte der Referent, dass Rechtsextremisten bei deren Demonstrationen und Kundgebungen stets dabei seien. Es gebe zudem seiner Ansicht nach keine Trennung zwischen Terroristen und rassistischem Bürgermob, wie etwa der "Bürgerwehr Freital". Durch das aufgeheizte Klima und die immer offenere Hetze gegen Ge-flüchtete, sei es für ihn nicht erstaunlich, wenn die Sicherheitsbehörden feststellten, dass viele der Anschläge auf Asylunterkünfte von Personen begangen worden seien, die bisher nicht als rechtsextrem aufgefallen waren.

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