Asylbewerber:Der lange Weg zur Ruhe

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Familie Darwish lebte am Stadtrand des heute völlig zerstörten Homs. Panzer fuhren durch die Straßen, Bomben schlugen in Nachbargebäude ein. (Foto: Reuters)

Familie Darwish ist vor dem syrischen Bürgerkrieg über Nordafrika und das Mittelmeer nach Deutschland geflohen. In Dachau finden sie Ruhe. Ein Besuch bei sechs Menschen, die unbedingt tapfer sein wollen.

Von Anna-Sophia Lang, Dachau

Bevor die Bomben fielen und ihre Welt zusammenbrach, war Tasnim Darwish ein ganz normaler Teenager. Unbeschwert, glücklich. Dann sah sie, wie ihre syrische Heimat zerstört wurde, die Straßen ihrer Kindheit zu Schutt und Asche zerfielen, das Lebenswerk ihrer Eltern zunichte gemacht wurde.

Tasnim lacht viel. Sie ist 16, unter ihrem Kopftuch hat sie die langen Haare aufgesteckt, dazu trägt sie einen dicken Lidstrich. Sie muss nicht mehr um ihr Leben fürchten. Doch was sie erlebt hat, steckt tief in ihr. Das Lachen bietet ihr Schutz. Schutz vor der Angst, die wieder hoch kommt, vor der Verzweiflung und der Trauer um das, was verloren ist.

Etwa zwei Jahre ist es her, dass Tasnims Familie fast im Mittelmeer ertrunken wäre, nachts, in einem überfüllten Schlauchboot auf dem Weg von Libyen nach Italien. Familie Darwish, das sind die Eltern Nahed und Ibaa, die Töchter Elaf, Tasnim und Alaa, zwischen sechs und 22 Jahren alt, und der Sohn, Obayda, der älteste der vier Geschwister. Man könnte sagen, sie haben Glück gehabt. Alle sechs sind beisammen, alle haben die Flucht überstanden. Im Oktober 2013 kamen sie in Dachau an. Nun sind sie anerkannte Flüchtlinge, dürfen in Deutschland bleiben. Vor kurzem konnten sie in eine Wohnung umziehen. Endlich haben sie wieder Platz zum Leben, Privatsphäre, Raum für sich.

"Terroristen gingen von Tür zu Tür und wollten die Jungs mitnehmen."

Seit dem Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien 2011 haben laut Mediendienst Integration mehr als vier Millionen Menschen ihr Heimatland verlassen. Die meisten wurden von den Nachbarstaaten Türkei, Jordanien und vor allem dem Libanon aufgenommen. Etwa 120 000 erreichten bisher Deutschland. Als Kriegsflüchtlinge haben sie Anspruch auf Asyl. Hier finden sie Schutz, zur Ruhe kommen viele - wie die Darwishs - jedoch noch lange nicht.

Die Familie Darwish hatte ein Haus am Stadtrand von Homs. Tasnim ging zur Schule, Alaa und Obayda standen kurz vor dem Abschluss. Sie wollten studieren. Ibaa fuhr jeden Tag zur Arbeit in einen Nachbarort. Dann kam der Bürgerkrieg. Drei Jahre lang durchlebte die Familie einen Albtraum. Die Geschwister sahen Panzer durch die Straßen fahren, in denen sie aufgewachsen waren. Bomben schlugen in Nachbargebäude ein, Demonstrationen wurden mit Gewalt beendet. "Terroristen gingen von Tür zu Tür und wollten die Jungs mitnehmen", erinnert sich Tasnim. "Mama hatte immer Angst." Noch heute beginnt die kleine Elaf zu weinen, wenn es irgendwo laut kracht. "Nach drei Jahren gab es keine Jobs mehr, keine Schule, keine Sicherheit", sagt Obayda. Der 23-Jährige ist stiller, ernster als seine jüngere Schwester. Doch auch er lächelt, versucht, sich nicht übermannen zu lassen von dem, was er erzählt.

Tasnim, Obayda, Nahed, Ibaa, Elaf und Alaa Darwish (von links) versuchen, in Dachau Normalität zu finden; die Kinder wollen studieren. (Foto: Toni Heigl)

Sie wollten nach Schweden und verloren auf alles auf dem Meer

Die Flucht der Familie wurde zur Odyssee. Das ursprüngliche Ziel: Schweden. Zweimal wagten die sechs die Fahrt über das Mittelmeer, zweimal mussten sie die Schlepper dafür bezahlen. "Diesmal haben wir alles verloren", sagt Obayda, als er von der zweiten Überfahrt erzählt. "Selber schuld", war die Antwort des Schleppers, als die Familie ihn fragte, wie sie ohne Geld in Europa zurechtkommen solle.

Die Wochen vor dem ersten Versuch verbrachte die Familie im Wartezustand, wurde von Ort zu Ort geschleust, immer in der Angst, entdeckt und zurückgehalten zu werden. Und voller Hoffnung. Ein großes, schönes Boot versprach der Steuermann ihnen, ausgestattet mit Toiletten und allem Komfort. Als es so weit war, wurden 107 Menschen unter lauten Beleidigungen und mit Tritten auf ein zehn Meter langes Schlauchboot gepfercht. Unter ihnen auch ein zwei Monate altes Baby. Obayda erinnert sich, als wäre es gestern gewesen. "Frauen, Kinder und Alte in der Mitte, die Männer auf dem Rand." Eines Nachts fiel der Motor aus. Wasser drang ins Boot. Mit einem Satellitentelefon funkten die Passagiere SOS. Die Antwort: "Ihr seid noch nicht auf italienischem Gebiet."

Ein Schiff fing das Flüchtlingsboot im Scheinwerferlicht ein - und drehte ab. Die Arbeiter auf einer Ölplattform, die die Flüchtlinge irgendwann erreichten, schauten schweigend auf sie herab. Verzweifelt klammerten sich die Menschen vom Boot an die Stelzen der Plattform. Irgendwann nahm ein Schiff sie an Bord. Völlig erschöpft schliefen die Flüchtlinge ein. Als sie am nächsten Morgen erwachten, sahen sie die libysche Flagge im Wind wehen. Man hatte sie zurückgebracht.

Obayda ist angespannt, als er davon erzählt. Er sitzt zwischen seinen beiden Schwestern auf dem Sofa im neuen Zuhause, das der Rotary-Club und die Sparkasse Dachau für sie gefunden haben. Die Zimmer sind lichtdurchflutet, es ist sauber und aufgeräumt. Die Einrichtung ist gespendet, die Küche von den Nachbarn, die Markt Indersdorfer Firma Küchen Necker hat sie umsonst eingebaut.

Während des Ramadan isst und trinkt die Familie zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang nichts - Nahed bemuttert trotzdem liebevoll die Gäste, verteilt Schokolade, Wasser und arabischen Kaffee. Sie spricht Deutsch, wenn auch nur ein paar Brocken, ist warmherzig und ausgeglichen. Sie ist Krankenschwester, ihr Mann Ingenieur. Eine Arbeit haben die beiden bisher nicht, die Sprachkenntnisse fehlen. Die Eltern sitzen eng beieinander auf zwei Stühlen neben dem Sofa. Sie lächeln. Erzählen lassen sie ihre Kinder. Die diskutieren lebhaft, widersprechen sich, necken sich, wie es Geschwister eben tun. Ein Hauch Normalität.

Die Familie strandete in Dachau, die Gemeinschaftsunterkunft schockierte

Beim zweiten Fluchtversuch schaffte es die Familie in einem Holzboot nach Lampedusa. Drei Tage später brachten Mitarbeiter vom Internationalen Roten Kreuz sie aufs europäische Festland. Vater Ibaa und seine Tochter Alaa sollten zurückbleiben, es gab nicht genug Plätze. Als ein Mitarbeiter die kleine Elaf beim Abschied verzweifelt weinen sah, ließ er die ganze Familie einsteigen. Das Camp im apulischen Foggia war die letzte Station vor dem Münchner Hauptbahnhof. Die deutschen Polizisten warteten bei den Fahrkartenautomaten. "Sie waren freundlich und sprachen Englisch", erinnert sich Obayda. "Kommt mit, wir helfen euch, Tickets nach Schweden zu besorgen", hätten sie gesagt. Doch so weit kam es nicht. Eineinhalb Jahre teilten sich die Geschwister ein Zimmer in der Dachauer Gemeinschaftsunterkunft in der Kufsteiner Straße, von der sie schockiert waren. Alaa weinte viel.

Heute geht es den Darwishs besser. Zumindest äußerlich. Ob sie sich in Dachau ein kleines bisschen zu Hause fühlen? Obayda übersetzt. Die Eltern lächeln weiter, schweigend, aber voller Traurigkeit. Auch auf Obaydas Gesicht zeichnet sich ein sanftes Lächeln ab. Er blickt zu Boden und sieht dabei aus, als würde er gleich sagen, wie es ihm wirklich geht. Er traut sich nicht. Familie Darwish will sagen, dass alle wirklich glücklich sind und zufrieden. Die Wahrheit wäre das nicht. Die Großmutter ist noch in Syrien, Verwandte, Freunde. Der Kontakt ist da, doch immer wieder fällt das Internet aus und die Familie hört tagelang nichts. Dann wächst die Sorge. Ibaa senkt den Blick, als Obayda von der Angst um die Angehörigen erzählt.

Ob sie studieren werden, steht in den Sternen

Am Ende sagt Obayda einen Satz, der doch ein wenig darüber verrät, was in ihm vorgeht. "Es muss weitergehen", sagt er, "man kann nicht stehen bleiben." Eine bitter-süße Antwort. Vor einiger Zeit ist der junge Mann für zwei Wochen nach Berlin gefahren. "Da habe ich Dachau vermisst", erzählt er. Diesmal ist sein Lächeln ein glückliches. Es dauerte fast ein Jahr, bis Alaa und er in die Berufsschule gehen konnten, um einen Abschluss zu machen. Der syrische wird in Deutschland nicht anerkannt. Beide wollen studieren, ob das klappt, steht in den Sternen. Das Regelwerk deutscher Hochschulen ist ein Dschungel. Anne Schreiner von den Alumni des Rotary Clubs, die nur wenig älter ist als die beiden, hilft, wo sie kann.

Am späten Nachmittag setzt Tasnim den Gästen eine Süßspeise aus gefrorenen Erdbeeren vor. "Sie ist die Kochkünstlerin der Familie", sagt Anne Schreiner. Tasnim lacht, für einen Moment wirkt sie völlig unbeschwert. Ganz langsam kehrt der Alltag ein im Leben der Darwishs. Schritt für Schritt erkämpfen sie sich Normalität. Die Odyssee ist zu Ende. Doch die Erinnerungen, die Sorgen, das Heimweh lassen nicht los. Die Darwishs sind tapfer. Ihr Schutzschild ist das Lächeln.

© SZ vom 01.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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