Dachau:Blick zurück in Empathie

"Es ist der Versuch einer ganz menschlichen und ganz persönlichen Auseinandersetzung mit der Geschichte dieser Stadt." Karen Breece und die Dachauer Theatergruppen inszenieren die "Blutnacht von Schreckenstein" als Selbstbefragung.

Helmut Zeller

Da sind in der Aufführung immer wieder diese Momente, qualvoll lange Momente, in denen Zuschauer den Blick abwenden, weil die körperliche Präsenz der Schauspieler auf der Bühne kaum mehr zu ertragen ist. Zum Beispiel Leopold, Hausmeister auf Schreckenstein (Markus Kurbanoglu): Er rennt auf der Kiesstrecke von einem Ende der riesigen Lagerhalle zum anderen und zurück, zählt dabei laut und keucht, wirft sich dann auf den Kies, steht in Staub gebadet auf, fällt wieder nieder. Auf, Ab, Auf, Ab, Auf . . . , brüllt er die Befehle, und das nimmt kein Ende, bis er um Atem ringend und verschwitzt, zerschlagen liegen bleibt. So beginnt die Regisseurin Karen Breece ihre Inszenierung der "Blutnacht auf dem Schreckenstein". Das Stück wurde erstmals am 13. Juni 1943 von KZ-Häftlingen im Konzentrationslager Dachau als Persiflage auf Hitler und den Nationalsozialismus aufgeführt. Die SS auf den Zuschauerrängen begriff die Hitler-Satire nicht, aber die Häftlinge befreiten sich durch ihr grölendes Lachen, wie ein Überlebender es beschrieb, zumindest für Momente von ihrer Qual und ihrer Angst.

Dachau: Die Nazi-Ritter Eduard Hörl (v.l.), Stefan Krühler, Hausmeister Leopold, der "Stumme Büßer" Shafiq Muhseni und Nazi-Ritter Ernst Konwitschny.

Die Nazi-Ritter Eduard Hörl (v.l.), Stefan Krühler, Hausmeister Leopold, der "Stumme Büßer" Shafiq Muhseni und Nazi-Ritter Ernst Konwitschny.

(Foto: © joergensen.com)

Vorweg hatte Karen Breece vor dem Premierenpublikum in der aufgelassenen MD-Papierfabrik von einem "Experiment" gesprochen, das ihr und dem Laienensemble des Dachauer Freilichttheaters durchaus auch Angst gemacht habe. Nach mehr als zwei Stunden Spiel aber stand fest: Das Experiment war gelungen, viermal holten die Zuschauer mit ihrem Applaus die Theatergruppe auf die Bühne. Die Regisseurin und die Schauspieler aus verschiedenen Theatervereinen haben schon für die zwei vorausgegangenen Produktionen von Stücken Kleists und Shakespeares viel Anerkennung gefunden. Aber das Stück des Wiener Journalisten Rudolf Kalmar, Dachau-Häftling von 1938 bis zur Befreiung 1943, stellte das Ensemble vor besondere Schwierigkeiten. Die Darstellung eines Konzentrationslagers auf dem Theater ist unmöglich. Karen Breece hat deshalb den brutalen Lageralltag nicht naturalistisch etwa mit SS-Wachen oder Häftlingen nachzustellen versucht. Der Zuschauer versteht schon, dass die Bühne, die lange Kiesstrecke, den Appellplatz und die Lagerstraße symbolisiert, Szenische Effekte, Licht, Geräusche und Musik schaffen, sparsam und geschickt eingesetzt, eine beklemmende Szenerie. Das suggestive Cello-Spiel von Mathis Mayr legt sich auf das Geräusch des Kieses, den Hausmeister Leopold nach jeder Szene energisch harkt, um imaginäre Spuren der Bluttaten auf Schreckenstein zu beseitigen. Die Inszenierung verbindet bravourös drei Ebenen: Von der Entstehung des KZ-Stücks und damit einem Teil der Geschichte des Konzentrationslagers Dachau erfährt der Zuschauer durch Lesungen. Die Schauspieler, die immer wieder unter den Besuchern Platz nehmen, lesen dazu aus Berichten von KZ-Überlebenden.

Die Stimmen der Zeitzeugen helfen Regie und Schauspielern den Subtext, den Kalmar der Ritter-Posse um den Raubritter Adolar gegeben hat, verständlich zu machen - auch wenn man gelegentlich schon genau aufpassen muss, denn das Stück ist überreich an Anspielungen auf den Hass und Rassenwahn Hitlerdeutschlands. Die Liebe der Nationalsozialisten zum Kitsch, die sich auch in ihrem Hang zum Monumentalen ausdrückte, parodieren René Rastelli als Adolar und Ingrid Zellner als Burgfräulein Anneliese, wenn sie am Ende Opernmelodien im Wagner-Rhythmus ohrenbetäubend brüllen. Überhaupt die Darsteller: Vom Spiel Ingrid Zellners, die schon als Dorfrichter Adam in Kleists "Zerbrochenem Krug" brillierte, kann man nicht genug bekommen. In der Interpretation von Karen Breece steht sie für die Germania - Hitlers Deutschland, das durch Massenmord die Welt regieren wollte. René Rastelli spielt mit begeisternder Leidenschaft und stellt den Adolar mit intelligent angedeuteten Gesten Hitlers bei öffentlichen Auftritten dar. Kulturreferent Dominik Härtl bringt den Nazikarrieristen Heinrich von Lämmermann grandios bis in die Fingerspitzen hinein auf die Bühne. Alle Schauspieler reißen mit und machen - fast wirkt es deplaciert das bei diesem Stoff zu sagen - Lust aufs Theater.

Auf der dritten Ebene - das schwierige Verhältnis vieler Dachauer zur Geschichte - ringen Abwehr und Hinschauen miteinander. Darum ging es Karen Breece vor allem: "Es ist der Versuch einer ganz menschlichen und ganz persönlichen Auseinandersetzung mit der Geschichte dieser Stadt." Da wird in vereinzelten Statements schon mal der Familien-Mythos weiter gereicht, die Großeltern hätten ja gar nichts damit zu tun gehabt. Aber da gibt es auch bestürzend klare Aussagen zur - bisher - eigenen Gleichgültigkeit oder Verweigerung, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Aber die Inszenierung vermeidet jedes Moralisieren, das Publikum soll sich selbst in den Bekenntnissen oder auch Ausflüchten wiedererkennen. "Ist man ein anderer Mensch, wenn man in Dachau lebt", fragt ein Darsteller. Die Antwort gibt das Stück: Geschichte schreibt sich in jeden Ort und alle Menschen ein.

Die Vorstellungen in der MD-Papierfabrik Dachau sind ausverkauft, Karten gibt es ab sofort für die Zusatzaufführungen am 20. und 21. Juli bei allen MünchenTicket-Vorverkaufstellen.

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