Dachau:Aus Angst vor den Eltern

Das mutmaßliche Opfer gesteht vor dem Landgericht, die Unwahrheit gesagt zu haben

Von Andreas Salch, Dachau

Es sollen Szenen gewesen sein wie aus einem Krimi: Dachau, Münchner Straße, es ist der 2. September 2015. Früher Abend. Ein junge Mann nähert sich einem Pkw, reißt die Beifahrertüre auf. Am Steuer sitzt eine damals 21 Jahre alte Dachauerin. Der 31-Jährige packt sie an den Haaren, reißt ihr den Hinterkopf in den Nacken, schlägt sie und droht, ihr die Kehle durchzuschlitzen. Dann muss die Frau den 31-Jährigen nach Salzburg fahren. Dort verspricht die Dachauerin mit ihm eine Beziehung einzugehen. Um ihn zu besänftigen, schläft sie mit dem Mann in einem Hotel. So zumindest steht es in der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft. Sie legt dem mutmaßlichen Entführer Geiselnahme und vorsätzliche Körperverletzung zur Last.

Seit Mitte November vergangenen Jahres muss sich der 31-Jährige vor der zweiten Strafkammer am Landgericht München II wegen der Vorwürfe verantworten. Was wirklich passiert ist an jenem 2. September 2015 ist aber auch nach dem zehnten Verhandlungstag noch unklar. Denn das mutmaßliche Opfer hat vor Gericht mehrfach die Unwahrheit gesagt. Sogar ihre Cousine hat die Dachauerin, die in dem Prozess als Nebenklägerin auftritt, zu einer Falschaussage angestiftet. Die Cousine hatte dies erst eingeräumt, als ihr die Festnahme im Gerichtssaal drohte.

Es ist eine bizarre und wirre Geschichte. Vieles erscheint inzwischen fraglich. Zum Beispiel, ob die angebliche Geiselnahme überhaupt so stattgefunden hat, wie es die Dachauerin behauptet? Denn der 31-Jährige, von Beruf Maschinist, und das mutmaßliche Opfer hatten sich schon vor der angeblichen Tat im Juli 2015 über Facebook kennengelernt. Der Angeklagte soll die junge Frau in den Wochen danach mehrfach bedroht haben. Als er ihr schließlich ein Foto mit einer Pistole mailte, war sie zur Polizei gegangen.

Ein Sondereinsatzkommando drang in die Wohnung des Maschinisten ein. Die Waffe wurde gefunden. Es handelte sich um eine Spielzeugpistole. Später hatte sich die 22-Jährige dennoch wieder mit Mann getroffen. Der Maschinist habe ihr leidgetan, so die Frau.

Das mutmaßliche Opfer, zierlich, platinblonde Haare, lange roséfarbene Fingernägel, musste sich an diesem Donnerstag erneut den Fragen des Vorsitzenden Richters Oliver Ottmann stellen. Mit leiser Stimme sagte die 22-Jährige, sie möchte ihre Aussage von einem der vorhergehenden Verhandlungstage "korrigieren". Schon vor der Geiselnahme habe sie mit dem Angeklagten Sex gehabt. Zweimal sei sie davor mit dem Maschinisten intim geworden. Das hatte die Dachauerin nicht einmal ihrem Anwalt erzählt. Den Angaben der Cousine zufolge habe man sich vor Beginn der Verhandlung "verabredet", vor Gericht zu behaupten, der Maschinist habe die 22-Jährige nach Salzburg "verschleppt" und sie in einem Hotel vergewaltigt. Außerdem habe man sich darauf verständigt, auszusagen, vor der angeblichen Geiselnahme habe es keine intimen Kontakten mit dem Angeklagten gegeben.

Dies "war letztlich falsch", so die 22-Jährige bei ihrer Vernehmung an diesem Donnerstag. Warum sie dies zuvor abgestritten habe, könne sie "selber schwer erklären". Mit diesem Eingeständnis gab sich Richter Oliver Ottmann nicht zufrieden. Sie habe aus "Angst" so gehandelt, fügte die Dachauerin hinzu. Angst vor ihren Eltern. Diese hätten ihr früher verboten, sich mit Männern zu treffen. Diese "Angst", sagte die 22-Jährige, dauere bis heute fort. Warum sie vor Gericht viermal gelogen habe, will der Vorsitzende wissen. "Ich kann es selber schwer erklären, warum ich lüge", antwortete die Dachauerin. Ob es jemals zu einer Vergewaltigung gekommen sei, lautete die nächste Frage. "Ich habe nie sofort mitgemacht", erwiderte das mutmaßliche Opfer. Und die Geiselnahme? Oder habe sie sich von dem Angeklagten breitschlagen lassen und sei freiwillig mit nach Salzburg gefahren und habe die Geiselnahme nur erfunden - aus Panik vor ihren Eltern? "War es vielleicht so?", fragte Richter Ottmann. "Das ist falsch. Das stimmt nicht", beharrte die 22-Jährige.

Die beiden Verteidiger des Maschinisten haben gefordert, den Haftbefehl gegen ihren Mandanten aufzuheben. Das mutmaßliche Opfer habe die Ermittler der Polizei und das Gericht "nachhaltig angelogen". Über den Antrag wurde noch nicht entschieden.

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