Inklusion:Am Limit

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Für Lehrer ist es eine große Herausforderung, behinderte und nichtbehinderte Schüler gemeinsam in einer Klasse zu unterrichten. Die Schulen brauchen zusätzliches Personal, um Kinder mit Defiziten fördern zu können.

Von Daniela Gorgs, Dachau

Inklusion in Schulen ist ein heikles Thema. Es geht um viel Geld und Engagement. Und die Kunst, die vorhandenen Mittel so einzusetzen, dass alle Schüler optimal gefördert werden und das soziale Miteinander im Klassenzimmer gelingt. Wenn man der Dachauer Grundschullehrerin Jutta Gerstl zuhört, bekommt man eine Ahnung, wie herausfordernd es ist, behinderte und nichtbehinderte Schüler gemeinsam zu unterrichten. Jutta Gerstl unterrichtet eine dritte Klasse an der Klosterschule in der Altstadt. Sieben von ihren 19 Kindern haben sonderpädagogischen Förderbedarf. Diese Kinder leiden unter dem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS), haben eine Lese-Rechtschreib-Schwäche oder Probleme, still zu sitzen und nicht bei jedem Anlass aufzubrausen.

Die UN-Behindertenrechtskonvention sieht vor, dass Kinder mit Handicap einen Anspruch darauf haben, mit nichtbehinderten Schülern gemeinsam in einer Regelschule unterrichtet zu werden. Damit Schulen dies leisten können, bekommen sie staatliche Unterstützung. Hat eine Schule das Profil Inklusionsschule, erhält sie mindestens eine halbe Stelle für einen Sonderschullehrer und weitere Lehrerstunden. An der Grundschule Dachau-Ost wurden für das kommende Schuljahr außergewöhnlich viele Erstklässler mit Förderbedarf eingeschrieben. Schulleiterin Gabriele Dörfler geht die neue Herausforderung offensiv an und hofft, als Inklusionsschule anerkannt zu werden. Dann bekommt sie eine bessere Unterstützung. Bislang erhält sie wie die Klosterschule für die Einzelinklusion stundenweise Hilfe vom Mobilen Sonderpädagogischen Dienst (MSD).

In Jutta Gerstls Klasse kommt pro Woche für zwei Stunden eine Förderlehrerin und für drei Stunden eine Sonderschullehrerin. Die zusätzlichen Lehrerinnen arbeiten einzeln mit den jeweiligen Schülern und versuchen, Wissenslücken zu schließen. Dann hat Jutta Gerstl noch zwei Schulbegleiter im Klassenzimmer sitzen, die freilich nicht immer eine Hilfe sind. Die Begleiter sind pädagogisch nicht geschult. Es sind Freiwillige, die den inkludierten Schülern im Unterricht zur Seite stehen. Oft sind sie mit schwierigen Kindern überfordert und dann wird die gut gemeinte Hilfskraft schnell zur zusätzlichen Belastung für die Lehrerin. Jutta Gerstl hat Glück. Sie hat derzeit einen Schulbegleiter, der die Ausbrüche seines Eleven ignoriert und auf diesen neulich so lange einredete, dass er sogar die Probe mitschrieb. Natürlich sind auch solche Schulbegleiter ratlos, wenn Kinder sich total verweigern, unter den Tisch kriechen oder frustriert auf den Schulhof laufen und mit einem Regenschirm die Büsche zerkleinern.

Gerstl erlebt immer mehr Schüler als sozial-emotional vernachlässigt und gibt ihr Bestes, auch ihnen gerecht zu werden. Immer mit Notendruck im Nacken und konfrontiert mit überehrgeizigen Eltern, die behinderte Kinder als Bremse im Unterricht ansehen, der zum erfolgreichen Übertritt aufs Gymnasium führen soll. Inklusiver Unterricht ist ein Kompromiss zwischen dem Bedarf der Kinder nach Zuwendung und begrenzten Ressourcen. Darüber diskutierten die Dachauer Lehrer des Bayerischen Lehrerinnen- und Lehrerverbandes und Vorsitzende Jutta Gerstl vor Kurzem mit Martin Güll, dem SPD-Landtagsabgeordneten und Vorsitzenden des Bildungsausschusses. Güll, ehemaliger Schulleiter der Hauptschule Indersdorf, weiß, dass vor allem die Grundschulen mit Alltagsproblemen am Limit sind. Er zeigt volles Verständnis für den Frust der Lehrer und sagt: "Die derzeitigen Ressourcen sind zu knapp und vor allem nicht passend genug." Die Unterstützung müsste seiner Ansicht nach besser zugeschnitten werden. Güll fordert für jeden Landkreis ein Gremium, das aus Lehrern, Schulleitern und Verwaltung besteht und in enger Abstimmung mit dem Kultusministerium die Weiterentwicklung der Schulen koordiniert. Dieses Gremium müsste über einen Pool an zusätzlichem pädagogischen Personal verfügen, das den Schulen bei Bedarf zur Verfügung gestellt werden kann, ganz unbürokratisch. Derzeit würden die Lehrkräfte mit unwahrscheinlichem Engagement und Einsatz versuchen, Inklusion vernünftig umzusetzen. "Das wird jedoch nicht lange gut gehen", befürchtet Güll und kämpft auf höchster Ebene um mehr finanzielle Mittel.

Derweil müssen die Schulen den Alltag mit vorhandenen Bordmitteln meistern. Für eine Lehrerin wie Jutta Gerstl, die auf 40 Jahre Berufserfahrung zurückblickt, ist das weniger problematisch. Die Lehrerin hat keine Scheu, sich Hilfe zu holen und mobile Reserven, die noch freie Kapazitäten haben, spontan ins Klassenzimmer zu bitten. Wenngleich sie jetzt sagt: "Schule von heute ist zum Abgewöhnen."

© SZ vom 27.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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