Cannabis auf Rezept:"Ich bin kein Spaßkiffer. Ich muss das machen."

Cannabispatienten

Cannabispatienten Alexandra Scheiderer ist mit dem Rollator in Pasing unterwegs.

(Foto: Florian Peljak)

Für Schmerzpatientin Alexandra Scheiderer ist Cannabis die Rettung. Seit sieben Monaten gibt es das Mittel auf Rezept - doch kaum ein Arzt in München verschreibt es. Warum die Unsicherheit so groß ist.

Von Jasmin Siebert

"Ich habe alles durch, was man probieren kann. Mir hilft nur noch Cannabis", sagt Alexandra Scheiderer. Die Liste ihrer Diagnosen ist lang, eine Auswahl: vier Bandscheibenvorfälle, Arthrose an beiden Hüftgelenken und Verdacht auf das Ehlers-Danlos-Syndrom, eine seltene Bindegewebskrankheit. Von 2011 an nahm sie Morphium, es machte sie schläfrig und raubte ihr den Appetit. Ihre Arbeit als Sozialbetreuerin musste sie aufgeben, heute ist die 44-Jährige Frührentnerin und zu 80 Grad schwerbehindert. Eines Tages probierte Scheiderer Cannabis und stellte fest: Ihr Körper wurde ruhiger, die Schmerzen wurden erträglicher. "Es geht mir nicht ums Highsein", betont sie, im Gegenteil: "Ich will Herr meiner Sinne sein."

Seit dem 10. März 2017 dürfen Ärzte in Deutschland Cannabis auf Rezept verordnen, zuvor durften nur rund tausend Patienten mit einer Ausnahmegenehmigung der Bundesopiumstelle legal Cannabis konsumieren. Doch wer sich in München umhört, stellt fest: Sieben Monate nach der Gesetzesänderung herrscht noch immer große Unwissenheit und Unsicherheit bei Patienten, Ärzten und den Kassen, wie mit der neuen Situation umzugehen ist.

Weil Scheiderer nicht illegal konsumieren wollte, machte sie sich auf die Suche nach einem Arzt, der ihr Cannabis verordnet. Eine zermürbende Suche. Immer wieder musste sie sich rechtfertigen. "Dabei wollte ich eine leichtere Droge als Morphium, das aus der selben Pflanze wie Heroin gewonnen wird", sagt sie. Als das Morphium, wie sie sagt, einen Tumor verursacht habe, wollte sie eine Alternative. Sie machte den Entzug, seit drei Monaten ist sie morphiumfrei. Dafür hatte sie starke Schmerzen, schlief keine vier Stunden am Stück und konnte nur mit Rollator laufen.

Nach der Gesetzesänderung fand sie endlich einen Arzt, der bereit war, ihr ein Rezept auszustellen. Am 18. Juli ging der Antrag auf Kostenübernahme bei der AOK ein. Weil er bis heute nicht bewilligt ist, schrieb ihr ein Arzt ein Privatrezept. Doch leisten kann sie sich das eigentlich nicht. Seit Scheiderer offen dazu steht, dass sie auf Cannabis als Medizin setzt, erlebe sie selbst in der eigenen Familie Ausgrenzung, erzählt sie. Jüngst sei sie aus einer Hochzeit im Familienkreis ausgeladen worden. Dabei betont Scheiderer: "Ich bin kein Spaßkiffer. Ich muss das machen, um einigermaßen normal leben zu können."

Der Hanfladen

Wer sich in München für Cannabis als Medikament interessiert, dessen erste Anlaufstelle ist der Hanfladen in der Einsteinstraße. Er ist gedacht als Vorstufe zum Therapiezentrum für Cannabispatienten, das Wenzel Vaclav Cerveny spätestens im Frühjahr 2018 eröffnen will. Der Ladeninhaber ist vom medizinischen Nutzen des Hanfs überzeugt, auch wenn er es nach eigenen Angaben selbst noch nie probiert hat. In seinem Laden hat er einen "Patientenberater" angestellt. Jeden Tag kämen drei bis fünf Leute zu ihm, um zu fragen, ob Cannabis ihnen helfen könne, erzählt Thorsten Hetfeld. Es seien überwiegend ältere Menschen, sie haben Krebs oder leiden unter chronischen Schmerzen. "Die meisten hatten vorher nie etwas mit Cannabis zu tun."

Der Arzt

Obwohl seit der Gesetzesänderung jeder Arzt Cannabis verordnen darf, ist es für Patienten nicht leicht, einen Arzt zu finden, der sich auf die neue Medizin einlassen will. Viele scheuen den bürokratischen Aufwand und haben Sorge, als "Drogenarzt" in Verruf zu geraten. Auch ein Münchner Neurologe, der bisher drei Patienten Cannabis verordnet hat, möchte anonym bleiben. Seit der Gesetzesänderung habe er etwa alle zwei Wochen mit einem Patienten zu tun, der ihn nach Cannabis fragt. Dabei gebe es zwei Gruppen: Die einen, die von dem "Wundermittel" gelesen haben und es ausprobieren möchten. Und die anderen, die ohnehin schon kiffen.

Der Arzt sagt, er glaube seinen Patienten, dass sie sich besser fühlen, nachdem sie Cannabis konsumiert haben - nur: Im Gesetz ist davon die Rede, dass Menschen mit "schwerwiegenden Erkrankungen" Cannabis einnehmen dürfen. Was das ist, wird mitunter subjektiv sehr unterschiedlich empfunden. Der Neurologe kritisiert, dass Cannabis als Medizin zugelassen worden ist, ehe genügend seriöse Studien vorlagen. Er hat daher Verständnis für Kollegen, die kein Cannabis verordnen. Dass Ärzte erst einen Antrag auf Kostenübernahme bei den Kassen einreichen müssen, findet er prinzipiell gut. Nur die ausufernde Bürokratie, die ihm niemand bezahlt, stört ihn.

Fadia El Jana, die in einer Münchner Hausarztpraxis für die Verwaltung der Betäubungsmittelrezepte zuständig ist, findet: "Die Kasse greift damit massiv in die Therapiefreiheit des Arztes ein." Sie kritisiert, dass die Kassen nur eine bestimmte Sorte genehmigen. Sollte diese nicht lieferbar sein oder der Arzt eine andere Sorte verschreiben wollen, braucht es eine neue Genehmigung. Und die dauert. Oft so lange, bis auch die neue Sorte nicht mehr lieferbar ist und wieder ein neues Genehmigungsverfahren anlaufen muss.

Wurde der Bedarf unterschätzt? "Es sieht so aus"

Der Apotheker

Auch der Apotheker möchte nicht, dass er oder seine Apotheke im Zentrum Münchens namentlich in der Zeitung auftauchen. Zu groß ist die Angst vor Einbrüchen, hat er doch oft medizinisches Cannabis im Tresor gelagert. Etwa zehn Patienten lösen momentan Rezepte bei ihm ein. Immer wieder telefoniert der Apotheker mit Lieferanten und fragt, welche Sorten überhaupt vorrätig sind. Vier bis sechs Wochen dauert es meist, bis Cannabis geliefert wird.

Der Apotheker formuliert es vorsichtig: "Es sieht so aus, als sei der Bedarf unterschätzt worden." Schon zu Zeiten der Ausnahmegenehmigung kam es immer wieder zu Engpässen, doch seit der Gesetzesänderung seien die Lieferschwierigkeiten enorm. Lieferzeiten und Mengen schwankten extrem, auch bekomme er meist nur eine Sorte. Fünf Gramm Cannabisblüten kosten bei ihm aktuell um die 113 Euro. Viele Patienten, die Cannabis über ein Privatrezept beziehen, können sich das auf Dauer nicht leisten. Sie schicken ihr Rezept an eine Apotheke außerhalb Bayerns, die vermutlich einzige im ganzen Land, die medizinisches Cannabis per Post verschickt - zu deutlich günstigeren Preisen.

Die Polizei

Ein 25-Jähriger, der wegen einer ADHS-Diagnose legal kiffen darf, wurde im August stundenlang in einer Münchner Polizeiwache festgehalten. Das Cannabis im Originaldöschen aus der Apotheke bekam er erst vier Wochen später zurück. "Man muss mit Kontrollen leben", sagt Polizeisprecher Thomas Baumann. Schließlich sei Cannabis eine illegale Droge und bei niemandem stehe "Cannabispatient" auf der Stirn. Auch seien Arztbescheinigungen schon benutzt worden, um illegal mit Cannabis Handel zu treiben.

Michael Siefener, Sprecher des bayerischen Innenministeriums, betont, dass Cannabis in erster Linie eine Droge sei und Bayern gut damit fahre, selbst den Besitz kleiner Mengen konsequent zu verfolgen. Daher müssten Patienten hinnehmen, dass Kopien von Rezepten oder Arztbescheinigungen geprüft werden. Ein amtliches Dokument, mit dem sich Cannabispatienten fälschungssicher ausweisen könnten, gibt es nicht.

Die Krankenkassen

"Das Patienteninteresse an Cannabis-Arzneimitteln ist deutlich spürbar", sagt Vedrana Romanovic von der AOK Bayern. Mit vier Millionen Versicherten ist sie die größte gesetzliche Krankenkasse in Bayern, 1300 Anträge auf Kostenübernahme gingen bisher ein. 81 Prozent wurden genehmigt, elf Prozent abgelehnt, die restlichen Anträge sind noch in der Bearbeitung. Wie viele Menschen in Bayern Cannabis zu medizinischen Zwecken einnehmen, ist nicht erfasst. Nicht alle Krankenkassen können Zahlen liefern, die Verordnungen per Privatrezept zählt niemand.

Die meisten Kassen leiten Anträge auf Kostenübernahme an den medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) weiter. Der MDK Bayern prüfte seit Ende Juni 1600 Anträge und befürwortete die Gabe von Cannabis in 58 Prozent der Fälle. Bei 13 Prozent lehnte er ab, beim Rest wurde eine Alternativtherapie oder ein neuer Antrag mit anderen Unterlagen empfohlen. Wäre das Gesetz konkreter, wäre der Weg über den MDK häufig nicht nötig, kritisieren auch andere Versicherer. Die Situation sei für alle Beteiligten "sehr unbefriedigend".

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