Bildung:Eine Klasse für sich

Neue Angebote sollen Schüler, die kein Deutsch können, individueller fördern

Von Melanie Staudinger

Als Radka nach Deutschland kommt, kann sie weder lesen noch schreiben. In ihrer Heimat Bulgarien hat die 13-Jährige nie eine Schule besucht. Doch auch an ihrer Mittelschule im Münchner Westen macht das Mädchen kaum Fortschritte. "Wir wollten sie alphabetisieren, aber sie konnte sich eigentlich keinen einzigen Buchstaben merken", sagt Radkas Lehrer. Irgendetwas stimmte nicht, und weitere Untersuchungen zeigten: Das Mädchen hat einen Intelligenzquotienten von 48, damit müsste sie eigentlich eine Förderschule für geistig Behinderte besuchen. Jetzt aber sitzt Radka, die im wirklichen Leben anders heißt, mit Gleichaltrigen in einer Klasse, die genauso gut aufs Gymnasium gehen könnten, wenn sie nur dürften.

Der Fall von Radka und ihren Klassenkameraden zeigt ein Dilemma, das bisher noch nicht in den Fokus der Öffentlichkeit gelangt ist. Egal, ob Flüchtlingskind oder Zuwandererkind, ob Analphabet oder Gymnasialschüler, ob von der Flucht traumatisiert oder behütet aufgewachsen: Alle Kinder und Jugendliche, die kein oder kaum Deutsch sprechen, müssen in Bayern zuerst einmal in sogenannte Übergangsklassen. 105 solcher Klassen mit knapp 1800 Schülern gibt es in München derzeit, 35 davon an Grundschulen und 70 an den Mittelschulen. In diesen Zahlen verstecken sich drei spezielle Klassen, die so nur in der bayerischen Landeshauptstadt existieren. Sie sollen helfen, dass Jugendliche besser gefördert werden können, dass eben nicht Schüler aller Begabungsstufen gemeinsam unterrichtet werden, sondern jeder so, wie er es braucht. Und sie sollen die Chancen der Jugendlichen erhöhen, einen Ausbildungsplatz zu finden.

Erstmals hat das Schulamt eine Alphabetisierungsklasse mit 16 Schülern an der Mittelschule an der Wörthstraße eingerichtet. "Die meisten Kinder und Jugendlichen, die zu uns kommen, haben eine Schule besucht und können zumindest in ihrer Muttersprache lesen und schreiben", sagt Schulamtsleiterin Alexandra Brumann. Die Minderheit aber, die nie eine Schule von innen gesehen habe, bereite durchaus Schwierigkeiten: "Die Schüler kennen meist keinen geregelten Tagesablauf, sie wissen nicht, was ein Gong ist oder Stillarbeit." Gerade ältere Jugendliche täten sich schwer. Wenn sie mit 14 oder 15 Jahren anfangen, lesen und schreiben zu lernen, haben sie theoretisch nur ein bis zwei Jahre dafür Zeit - zu wenig, wenn man bedenkt, dass sie den regulären Stoff zusätzlich pauken müssen. Hier soll die Alphabetisierungsklasse helfen - spätestens nach einem Jahr, so der Plan, sollen die Schüler in eine Übergangsklasse wechseln.

Neu ist auch der sogenannte M-Zug international an der Mittelschule an der Cincinnatistraße. 25 Mädchen und Jungen besuchen die Klasse, die für begabtere Schüler gedacht ist. Sie werden nach der normalen Stundentafel unterrichtet, erhalten aber zusätzlich fünf Stunden "Deutsch als Zweitsprache". So sollen sie fit gemacht werden für den Mittleren Schulabschluss, den viele momentan nur über Umwege ablegen können.

Das dritte Modell liegt Schulamtsleiterin Brumann ganz besonders am Herzen. Die Mittelschule an der Ridlerstraße bietet eine Klasse mit dem Namen 9ü+. 20 Schüler sitzen dort und bekommen, wie Brumann es ausdrückt, eine verstärkte Berufsorientierung. Ihr Ziel: Sie sollen einen Schulabschluss machen, wenn nötig, dann in einem längeren Zeitraum. Und gleichzeitig in Betrieben Erfahrung sammeln. Nach jeweils vier Wochen Unterricht schließt sich eine Praktikumswoche an. "Das Projekt läuft wunderbar an", sagt Brumann. Auch seien genügend Betriebe gefunden worden, die die Wochenpraktikanten aufnehmen würden. "Sie können die Jugendlichen kennen lernen, und vielleicht springt ja eine Ausbildung raus", sagt die Schulamtsleiterin.

So weit sind Radka und ihre Mitschüler noch nicht. Immerhin haben sich viele bereits nach wenigen Monaten an ein passables Deutsch-Niveau herangearbeitet. Ein paar Schüler dürfen nun probeweise eine reguläre Klasse besuchen und sich dort beweisen - ganz ohne den Schutz der Übergangsklasse.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: