Bewegtes Leben:Tante Siljas Träume

Silja Rosenthal, gebürtige Estin, kam über beschwerliche Umwege nach München. Heute kümmert sich die Künstlerin um Behinderte, obwohl sie selbst an Polio erkrankt ist

Von Dietrich Mittler

Als die Sonne in München über dem Kufsteiner Platz aufgeht, hat das Mädchen mit der viel zu großen Schleife auf dem Kopf die Augen bereits weit geöffnet. Hellwach, fast ein bisschen trotzig, blickt sie herunter zu der grauhaarigen Frau, die sich erst einige Stunden später den Schlaf aus den Augen wischt und den Blick erwidert. Das ist der Moment, in dem sich Silja Rosenthal morgens selbst begegnet, als 75-jährige Frau und als zehnjähriges Mädchen. Kurz darauf wird die Frau aufstehen, während das Mädchen starr im Bilderrahmen verharrt, gemeinsam mit dem Foto des Vaters als junger Galan und dem Bild der Mutter auf der Flucht vor der Roten Armee - die Haare wirr im Gesicht, die Tochter auf dem Arm.

Der Krieg ist weit weg im Leben der Wahlmünchnerin, deren Heimat einmal Estland war. Nur manchmal rückt er näher, wenn Gewitter aufziehen und der Donner grollt. Dann flammen Erinnerungen auf: das Dröhnen von Flugzeugmotoren, das Krachen der Bomben auf ihre Geburtsstadt Tartu. "Damals, so erzählte mir Mutter, hieß es: Wenn Bomben fallen, muss man sich in der Wohnung hinter Polstermöbel legen. Ich aber habe trotzdem hinter einem Sessel hervorgeschaut", sagt sie. Und dann sah sie durchs Fenster die leuchtenden Zielmarkierungen am Himmel, die wegen ihrer typischen Form auch "Christbäume" genannt wurden.

In der kleinen Wohnung am Kufsteiner Platz leuchten nachts allenfalls die Sterne am Himmel. "Es gibt nichts, was mich hier bedroht", sagt Rosenthal. Nur zwei Schritte links von dem Mädchen mit der viel zu großen Schleife auf dem Kopf beginnt indes eine ganz andere Zeit: das wilde Schwabing der Sechzigerjahre mit seinen Künstlern, unter die sich Rosenthal als junge Töpferin mischte. Und war der Geldbeutel wieder einmal leer, irgendein Job fand sich immer. Geblieben sind davon einige Gemälde, nicht unbedingt wertvoll, doch in ihren weißen Rahmen von strahlender Eleganz. "Damals habe ich auch die Malerin Erna Amend kennengelernt - eine tolle Frau, die als Vierteljüdin im Dritten Reich nicht malen durfte", sagt Rosenthal, "und dieses Bild von ihr, das habe ich mir erputzt."

"Manche Leute, die hier reinkommen, sagen: ,Oh Gott, so viele Bilder.' Aber das ist doch mein Leben", sagt sie und lässt ihren Blick die Wände entlanggleiten. In ihrer 32-Quadratmeter-Wohnung hat all das seine perfekte Ordnung gefunden, was ein Menschenleben durcheinanderwirbeln kann. Wenn man so will, ist die Wohnung Spiegelbild eines ganzen Jahrhunderts. Eines Jahrhunderts, in dem der Großvater mütterlicherseits als estnischer Großbürger in St. Petersburg 1918 von den Bolschewiki erschossen wurde und ihre Großmutter - nur durch das Flehen ihrer zwei Kinder vor den tödlichen Kugeln bewahrt - zurück nach Estland flüchtete. Es ist das Jahrhundert, in dem Silja Rosenthals Vater - ein stolzer Bauernsohn - 1941 von den Russen als Heizer auf einer Lok zwangsrekrutiert wurde, während sein Schwager wie viele seiner Landsleute auf Seiten der Deutschen in der Waffen-SS diente - ein dunkles Kapitel estnischer Geschichte.

Bewegtes Leben: Trotz vieler Schicksalsschläge hat Silja Rosenthal - mittlerweile 75 Jahre alt - nie den Lebensmut verloren. Als Rentnerin besucht die Töpfermeisterin noch immer ihre frühere Heimat Estland.

Trotz vieler Schicksalsschläge hat Silja Rosenthal - mittlerweile 75 Jahre alt - nie den Lebensmut verloren. Als Rentnerin besucht die Töpfermeisterin noch immer ihre frühere Heimat Estland.

(Foto: Catherina Hess)

Und es ist das Jahrhundert, in dem Silja Rosenthal mit vielen tausend anderen Esten nach Deutschland kam. Manchmal sind sich Vergangenheit und Gegenwart sehr nahe. So auch an diesem Tag. Aus Rosenthals Stereo-Anlage kommen die Nachrichten des Deutschlandfunks. Und wie so oft derzeit, fällt das Wort "Asyl". "Mich nerven Leute, die sagen, das Boot sei voll", übertönt sie die Stimme des Sprechers.

Fremdenfeindliche Ausgrenzung habe sie am eigenen Leib erlebt. "Man will doch als Mensch dazugehören", sagt sie. Für sie selbst hatte die Flucht 1944 ihren Anfang genommen. Die Mutter hatte seit drei Jahren kein Lebenszeichen ihres Mannes erhalten, das Kind war an Polio erkrankt. So folgte sie dem Rat ihres Bruders, mit ihm und seiner Familie über das Meer nach Deutschland zu fliehen. Was die vierjährige Silja im Hafen der estnischen Hauptstadt Tallinn erlebte, kann sie heute nur bruchstückhaft wiedergeben: "Ein Mann sieht eines der Schiffe auslaufen, springt ins Meer, um das Schiff noch zu erreichen. Und mit einem Mal kommen wieder Tiefflieger. Meine Mutter schnappt mich, rennt los. Ich verliere einen Schuh. Das sind so die Bilder, die mir geblieben sind."

Irgendwie kommen Silja Rosenthal und ihre Mutter auf ein Schiff. Es gelangt unversehrt zum deutschen Zielhafen. Nicht so aber das Flüchtlingsschiff vor ihnen. Das Kriegstagebuch der Seekriegsleitung handelt die Tragödie vom 22. September 1944 in sechs Zeilen ab: "11 Uhr wurde Geleit D. ,Moero' von Reval nach Süden westl. Windau angegriffen. D. ,Moero' wurde schwer getroffen und ist 11.55 Uhr gesunken." "Ich hatte später einen Vormund, der auf diesem Schiff war. Seine ganze Familie ist umgekommen", sagt Rosenthal.

Die Sonnenstrahlen erleuchten den Frühstückstisch - eine Antiquität wie auch der Schrank, auf dem eine Büste der Rosenthal thront. Frech grinst ein Gartenzwerg vom Balkonfenster herein, Überbleibsel der letzten großen Verkaufsoffensive, bevor Rosenthal ihr Atelier am Nordbad 2007 zumachte. Respektlos beäugt er die Theatergrößen wie Bruno Ganz, die da Bild für Bild an der Wand hängen - Reminiszenzen aus einer Zeit, in der sich Rosenthal an der Pforte der Kammerspiele Geld dazu verdiente, um ihre künstlerische Freiheit als Töpfer-Meisterin bewahren zu können. "Ich habe da viel gesehen - aber dazu schweige ich", sagt sie und lacht nun mindestens so frech wie ihr Gartenzwerg.

Aber wie wäre es denn mit dieser Geschichte, sagt sie dann: Ihre Mutter, die als höhere Tochter in St. Petersburg die deutsche Schule besucht hatte, habe unbedingt die blaue Donau sehen wollen. "Und das mitten im Krieg!", wundert sie sich. "Die Donau war aber nicht blau." Enttäuscht reiste die Mutter mit ihrer Tochter weiter nach St. Pölten. Dann aber standen die Russen kurz vor Wien, und erneut begann die Flucht. Zu dieser Zeit hatte die nun bald fünfjährige Silja von ihrer Mutter gerade neue Stiefel und ein weißes Kaninchen mit roten Augen bekommen.

Bewegtes Leben: Bild aus schlechten Tagen: die vierjährige Silja Rosenthal 1944 oder 1945 mit ihrer Mutter auf der Flucht.

Bild aus schlechten Tagen: die vierjährige Silja Rosenthal 1944 oder 1945 mit ihrer Mutter auf der Flucht.

(Foto: privat)

Nach einer kurzen Zeit im Allgäu, in der Silja Rosenthal Schmiere stand, wenn die Mutter aus der Not heraus auf dem Acker Kartoffeln klaute, kamen die zwei im baden-württembergischen Geislingen an. Dort hatten die Amerikaner die Einheimischen aus mehreren Wohnsiedlungen vertrieben, um Platz für heimatlose Esten zu schaffen. Die Verzweiflung der um Haus und Besitz gebrachten Menschen kann Rosenthal nachvollziehen, nicht aber ihren blinden Hass. Als Kind bemerkte sie nur eines: "Für die Leute waren wir das Pack." Als die noch verbliebenen Esten-Kinder um 1950 herum in eine deutsche Schule kamen, zahlte es ihnen ein alter Lehrer heim: "Wir kamen in die letzte Reihe, durften uns nicht rühren. Es war furchtbar."

Das aber war im Rückblick wohl noch das geringere Drama. In dieser Zeit hatte Silja Rosenthal einen Traum: Eine üble Gestalt - war es der Tod oder war es der Teufel - kroch einen Hügel herauf, um die Mutter zu holen. "Ich habe ihn immer wieder heruntergestoßen, aber dann habe ich im Traum den Kampf verloren." Die Mutter, die nach einer Liaison mit einem Deutschen noch einer zweiten Tochter das Leben geschenkt hatte, erlag 1952 ihrem Krebsleiden. Es folgten Jahre im Heim, die Rosenthal geformt haben. "Mir ist dort im Lindenhof - einer evangelischen Einrichtung - viel mitgegeben worden", sagt sie. Ein Lehrer, der es gut meinte, half ihr auch endlich, die deutsche Sprache zu erlernen. "Du brauchst jemanden, der an dich glaubt", ist bis heute eines ihrer Credos.

Als ihr Schwesterchen schließlich im Alter von fünf Jahren zur Adoption in die Vereinigten Staaten freigegeben wurde, brach für Rosenthal, wie sie sagt, eine Welt zusammen. Nun hatte sie gar keine Familie mehr. Das änderte sich schlagartig, als ihre Taufpatin in Estland über das Rote Kreuz 1976/77 nach ihr suchen ließ und Rosenthal plötzlich erfuhr: Ihr Vater lebt. "Mutter hatte mir gesagt, er sei tot", sagt sie. Beim ersten Wiedersehen 1992 drückte er ihr zwei Äpfel in die Hand, die er von seinem Lieblingsbaum gepflückt hatte. Bald darauf wusste Rosenthal, von wem sie ihr Temperament hatte. "Er war wütend, weil Mutter mit mir nach Deutschland gegangen war", sagt sie. Sie entgegnete nicht minder aufgebracht: "Vater, halt an. Ich bin nicht deine Frau, ich bin deine Tochter."

2012 starb der Vater 92-jährig im Krankenhaus von Tartu. Rosenthal - sie hatte ihre Muttersprache 2005 neu lernen müssen - reist immer wieder nach Estland. Obwohl sie sich durch ihre Polio-Erkrankung selbst nur mit Hilfe einer Schiene am rechten Bein frei bewegen kann, engagierte sie sich dort lange Jahre im anthroposophisch orientierten Wohndorf Pahkla für behinderte Menschen. "Ich habe gekocht, Plätzchen gebacken", sagt sie. Deshalb spreche sie ja auch ein gepflegtes "Küchen-Estnisch". Die Dorfbewohner haben es ihr gedankt. Eine Katze, die im Camphill lebt, heißt jetzt "Tante Silja". Klar, dass Silja Rosenthal diese Menschen wiedersehen will - auch wenn sie nun in einer anderen Behinderteneinrichtung nahe Tartu tätig ist. "Ich habe zwar keine Familie, aber ich habe immer wieder Freunde gefunden", sagt sie. "Aufgeben", fügt sie dann hinzu, "das geht ja gar nicht."

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