Beruf mit Stressfaktor:Notärztin für die Seele

Beruf mit Stressfaktor: Gabriele Pace sieht viel Leid in ihrem Beruf. Und erlebt doch Schönes: Einmal gab es eine Taufe bei ihr in der Flughafenkapelle.

Gabriele Pace sieht viel Leid in ihrem Beruf. Und erlebt doch Schönes: Einmal gab es eine Taufe bei ihr in der Flughafenkapelle.

(Foto: Marco Einfeldt)

Gabriele Pace hat sich als Pfarrerin lange um Gefängnisinsassen in Stadelheim gekümmert, die vergangenen neun Jahre arbeitete sie als Flughafenseelsorgerin

Von Carolina Heberling

Ein Flug aus Moskau hat Verspätung. Geplante Ankunftszeit: 11.45 Uhr. So steht es auf der Anzeigetafel in Terminal 1. Drei Stunden später ist er noch immer nicht gelandet. Menschen warten. Möglicherweise auf einen geliebten Menschen. Zeitgleich, ein Stockwerk höher in der Christophorus-Kapelle: Ruhe. Hier wird nicht lautstark telefoniert. Hier wird kein Koffer hinter sich her gezerrt. Hier hat man Zeit. Ungewöhnlich an einem Flughafen. Es war bis vor wenigen Tagen der Arbeitsplatz von Gabriele Pace, 57. Pace ist evangelische Pfarrerin - und war neun Jahren lang Seelsorgerin des Flughafens München. Pace? Friede. Der Name ihrer italienischen Vorfahren passt zu ihrem Beruf.

Menschen wie Pace hat man in letzter Zeit häufiger im Fernsehen gesehen. Nach dem Absturz des Germanwings-Fluges 4U9525 galt es, in Talk-Sendungen Erklärungen zu finden, Antworten auf das Unfassbare. Wer wäre da besser geeignet als jemand, der von Beruf aus Antworten gibt? Maischberger hat angerufen, erzählt Pace, ebenso der Bayerische Rundfunk und "so eine Talkshow aus Köln". Den Namen hat Pace vergessen. Bei Maischberger war sie dann doch nicht, aber bei der Münchner Runde im BR. "Mit der Presse zu sprechen, ist auch Teil meines Berufs", sagt Pace, "die suchen sich halt die Leute zusammen, die zu ihren Themen gerade passen." Dann erzählt sie vor Kameras von ihrem Job, von Trauerarbeit, von Notfallseelsorge. Doch auch Pace kann in so einer Talkrunde nicht plötzlich das Unbegreifliche erklären. "Die Leute kommen mit den Fragen des Lebens zu mir", sagt Pace, "aber am Ende können sie die nur selbst beantworten." Pace ist lediglich ein Helfer, eine "Notärztin" für die Seele, wie sie es nennt.

Doch ihr Job ist mehr als das, was nach einer Fernsehdebatte davon zurückbleibt. Klar, auch Katastrophen wie ein Flugzeugabsturz sind Teil von Paces Arbeit. Beim Germanwings-Absturz haben Pace und ihre Kollegen das Einsatzteam in Düsseldorf unterstützt - als Telefonseelsorger. Wer etwas auf dem Herzen hatte, konnte anrufen. Die Stimmung in den Tagen nach dem Absturz: gedrückt, irgendwie seltsam still. Pace wird mehr gebraucht denn je, auch von den vielen Menschen, die wie sie am Flughafen arbeiten - an der Rollbahn, am Check-In-Schalter, in der Verwaltung. Auch sie wollen reden.

Solche Katastrophen sind auch für Gabriele Pace nicht alltäglich. Da kommen Erinnerungen hoch, Erinnerungen an den 1. Juni 2009, als der Air-France-Flug 447 von Rio de Janeiro nach Paris über dem Atlantik abstürzte. An Bord auch 28 Deutsche, einige von ihnen sollten über Paris nach München fliegen. "Diesen Tag werde ich nie vergessen", sagt Pace, denn sie war es, die den Angehörigen die Wahrheit sagen musste.

Todesnachrichten muss Pace immer wieder überbringen. Mal stirbt eine Person überraschend während eines Fluges, mal kehrt ein Reisender nach München zurück, ohne zu wissen, dass daheim etwas Schlimmes passiert ist. Einmal im Monat passiere so etwas, schätzt die Seelsorgerin. Dann spricht Pace mit den Betroffenen. Nicht alle wollen ihre Hilfe, das müsse man akzeptieren, sagt sie. Manchmal sind es kleine Gesten - ein Taschentuch, das man jemandem reicht -, die Menschen trösten.

Als Seelsorgerin ist Gabriele Pace auch bei "Rückführungen" dabei. Rückführung, das ist der politische verwässerte Begriff für Abschiebung, Abschiebung von Asylanten. Wie man solche Menschen betreuen könne? "Das sind Kleinigkeiten", sagt Pace, "ein Telefonat ermöglichen, eine letzte Zigarette besorgen." Eine letzte Zigarette. Sie sagt das neutral. Trotzdem hat es einen Beiklang. Als ginge es nicht darum, dass ein Mensch in ein Flugzeug steigt. Sondern um ein Todesurteil, das vollstreckt wird. Ob einen das noch mitnehme, nach all den Jahren? Pace nickt.

Ein Flughafen ist auch ein Ort der Hoffnung und der Träume. Sie erinnert sich an ein afghanisches Flüchtlingspaar, das per Flug nach München eingereist ist: "Die waren beide über 80, beide sehr gebrechlich. Wie schlimm muss das Leid in einem Land sein, wenn man in diesem Alter noch die Flucht antritt?"

Pace sieht viel Leid in ihrem Beruf. Und erlebt doch viel Schönes: Einmal, erinnert sich Pace, habe sie eine Taufe vorgenommen, für die von überall her Menschen zu ihr nach München gekommen sind. Zu ihr, in die Flughafenkapelle. Man habe sich getroffen, das Kind getauft, zusammen gegessen. Danach seien alle wieder heimgeflogen. Und das alles nur, damit Oma dabei sein kann, die Oma aus Erding, die schon zu alt ist, um noch irgendwohin zu reisen.

Doch häufig passiert so etwas nicht. Meist kommen die Menschen mit Sorgen zu ihr - Schulden, Mobbing am Arbeitsplatz, Beziehungsprobleme. Pace hört sich alles an, egal ob ein Reisender oder ein Mitarbeiter des Flughafens mit ihr spricht. Wie ein Arzt unterliegt auch sie einer Schweigepflicht. Eine Schweigepflicht, die vieles einfacher macht, weil Dinge angesprochen werden können, die man sich sonst vielleicht nicht zu sagen traut.

Auch Gabriele Pace muss all diese Eindrücke irgendwie verarbeiten. Dann sucht sie nach einem Ausgleich im Privatleben. Sie spielt seit einigen Jahren begeistert Ziehharmonika, geht gerne wandern, widmet sich der Familie. Zwei Töchter hat sie, 26 und 31, von denen sie stolz erzählt, dazu ein Enkel. Gerade ist sie aus einem Urlaub zurückgekommen und wirkt entspannt. Erstaunlich entspannt für jemanden, der in wenigen Tagen seinen Job aufhört.

Am 1. Mai hat sie den Flughafen verlassen. Das Fernweh packt Pace schon lange nicht mehr. Für sie war der Flughafen die vergangenen neun Jahre ein ganz normaler Arbeitsplatz. Und nach neun Jahren tue ihr eine berufliche Veränderung ganz gut, sagt sie. So hat sie es auch als Gefängnisseelsorgerin gehalten - von 1998 bis 2006 war sie in Stadelheim tätig, dann ging es an den Flughafen. Nun fängt sie beim evangelisch-lutherischen Dekanat München an.

Wenige Tage vor ihrem letzten Arbeitstag hat Pace begonnen, das Büro auszuräumen. Auf der Couch, wo sonst Menschen sitzen und über Krisen sprechen, liegt ein Stapel Geschenke, die sie dieser Tage an ihre Kollegen verteilen wird. Zum Abschied. Eine Ebene tiefer geht es darum, Menschen willkommen zu heißen. Die Maschine aus Moskau ist inzwischen gelandet.

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