Behindertenarbeit in München:Die zweite Heimat in Gefahr

Weil das Innenministerium die städtischen Zuschüsse für die offene Behindertenarbeit stoppt, droht Einrichtungen wie dem "Freizeit- und Begegnungszentrum" das Aus.

Sven Loerzer

Mit Bekannten nach Dienstschluss etwas trinken zu gehen, gehört für viele Menschen zum Ausklang des Tages. Bitter, wenn dann plötzlich die Stammkneipe schließt. Aber geradezu aberwitzig muss es Menschen mit Behinderung erscheinen, dass nun einem ihrer beliebtesten Treffpunkte, dem Freizeit- und Begegnungszentrum im Löhe-Haus (FZB), das Ende droht: Die Stadt will den Betrieb zwar weiterhin bezahlen, darf dies aber nach Rechtsauffassung des Freistaats nicht mehr. Wichtige Bereiche der offenen Behindertenarbeit in München sind damit in ihrer Existenz bedroht.

Wenn Peter S. von seinem Arbeitsplatz in einer Behindertenwerkstatt kommt, führt ihn der Weg oft in das FBZ. Träger ist die Offene Behindertenarbeit des Evangelisch-Lutherischen Dekanatsbezirks. "Hier zählt nicht die Behinderung und was man nicht kann, sondern was man gerne macht und was man tun will", beschreibt Diakon Thomas Menzel den "offenen Betrieb".

Peter S. arbeitet seit 22 Jahren im Café-Team mit. Essen und Trinken sind günstig, viel Geld bleibt Menschen mit geistiger Behinderung ja nicht zum Leben. Für seine Mitarbeit erhält eine Essens- und eine Getränkemarke, die er nach seiner Schicht gleich wieder eintauscht, wenn er mit Freunden zusammensitzt. Etwa um über Fußball zu reden oder seine Arbeit. Tägliches Abendessen und Barbetrieb, Freitagskneipe mit Live-Musik, Feste, Kicker, Billard und viele Spiele, das alles gehört zum offenen Betrieb, wie auch die Disco am Samstagabend.

Dazu kommen die festen Gruppen, Kurse und die Möglichkeit, jederzeit bei Fragen und Problemen Gehör und Beratung zu finden. Peter S. fühlt sich wohl im FBZ - auch, weil er sich sicher sein kann, "dass er nicht dumm angemacht wird wegen seiner Behinderung. Die Vorstellung, dass das bald nicht mehr gehen könnte, ängstigt ihn.

Das FBZ läuft gut, mehr als 1000 Menschen informieren sich regelmäßig über die Angebote. Rund 200 Leute kommen regelmäßig, für etwa die Hälfte davon ist das der wichtigste Kontakt nach "außen", wie es der FBZ-Geschäftsführer, Diakon Heinz Karrer, formuliert. Gerade geistig behinderte Menschen müssten oft damit leben, dass andere über sie bestimmen, sagt Karrer. Am offenen Betrieb des FBZ aber könnten sie selbstbestimmt teilhaben.

Doch gerade das Ziel der Teilhabe von behinderten Menschen an der Gesellschaft ist allen Beteuerungen der Landespolitik zum Trotz nun doch gefährdet. Denn zum 1. Januar 2008 hatte der Landtag die Zuständigkeit für die sogenannten ambulante Eingliederungshilfe von den Kommunen auf die Bezirke verlagert, die bereits für die Heime zuständig waren. Die Landeshauptstadt war, wie viele behinderte Menschen, davon gar nicht begeistert.

Das Ziel war zwar, mit der Zuständigkeitsverlagerung bayernweit eine bessere flächendeckende Versorgung aus einer Hand zu schaffen. Aber in München befürchteten nun viele, dass damit das hier erreichte hohe Niveau der Versorgung nach unten gezogen werden könnte. Von allen Seiten, besonders vom Bezirk Oberbayern, aber auch von der Landespolitik, sei damals zwar beteuert worden, dass es keine Verschlechterung geben werde. Von "Bestandsschutz" sei sogar die Rede gewesen, erinnert sich Karrer.

Die Wirklichkeit sieht nun jedoch anders aus. Bislang verfügt das FBZ über sieben Vollzeitstellen, von denen nach den gemeinsamen Förderrichtlinien von Sozialministerium und Bezirk aber nur für gut vier Stellen staatliche Zuschüsse gewährt werden. Weil ohne die drei weiteren Stellen aber der offene Betrieb beendet werden müsste, hat die Stadt freiwillig weiter die nötigen Zuschüsse übernommen: zuletzt 2,2 Millionen Euro im Jahr.

Doch das Innenministerium hat jetzt in Frage gestellt, ob die Stadt überhaupt solche Zuschüsse leisten darf, wenn nach dem Gesetz der Bezirk für die Förderung dieser Pflichtaufgabe zuständig ist. "Da es sich nach unserer Auffassung um eine abschließende gesetzliche Regelung handelt", bleibe für einen Zuschuss durch die Stadt "aus rechtlicher Sicht kein Raum", schrieb das Innenministerium.

Im Sozialreferat stößt diese Rechtsmeinung auf entschiedenen Widerspruch. Sozialreferent Friedrich Graffe (SPD) will es nicht kampflos hinnehmen, dass die in den letzten 25 Jahren zusammen mit den Trägern entwickelte gute Struktur zerstört wird, die den Münchner Bürgern mit Behinderung ein selbstbestimmtes Leben mit ambulanter Versorgung ermöglicht habe. Graffe hat deshalb das Innenministerium aufgefordert, die Rechtsauffassung noch einmal zu überdenken, statt langjährig erfolgreichen Diensten damit den Todesstoß zu versetzen.

Im Rahmen der Daseinsvorsorge sei schließlich die Kommune verpflichtet, auch Menschen mit Behinderung angemessen zu versorgen. Das, so macht Graffe deutlich, könne der Freistaat der Stadt auf keinen Fall verbieten, zumal wenn sich weder Freistaat noch Bezirk ausreichend darum kümmerten. Auch der Vorstand des Behindertenbeirats, dem Karrer und der Münchner Behindertenbeauftragte Oswald Utz angehören, warnt in einem Brief an die Landtagsfraktionen vor den Konsequenzen der Position des Innenministeriums: "Die Umsetzung dieser Haltung würde in München für viele Menschen mit Behinderung eine deutliche Verschlechterung ihrer Situation bedeuten."

Besonders erbost ist der Behindertenbeirat, dass damit die Politik ihre Versprechungen bricht: "Im Vorfeld der Neuregelung der Eingliederungshilfe wurde uns von politischer Seite wiederholt versprochen, dass keine Verschlechterung der Situation in München eintreten wird." Dies zu verhindern wäre, gerade für die erste Generation von Menschen mit Behinderung, die jetzt aus den Werkstätten in den Ruhestand kommt, wichtig, sagt Karrer, "um nicht alle Sozialkontakte zu verlieren". Aber auch Susanne, 18, die das Löhe-Haus kennt, seitdem sie in der Kindergruppe war, hat sich dort ihren Freundeskreis aufgebaut und Kontakte geknüpft, die sie selbstsicherer machen.

Für junge Leute ist die Samstags-Disco ein beliebter Treffpunkt. Denn sonst bilden Türsteher, Eintritt und teure Getränke für sie oft unüberwindbare Barrieren. Für Susanne ist das FBZ die "zweite Heimat", in der sie auch ihre beste Freundin gefunden hat: "Hier sind meine Leute, da bekomme ich Anregungen, etwas zu unternehmen."

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