Bau der zweiten Stammstrecke:"Ich als Eigentümerin werde quasi enteignet"

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Seit Monaten protestieren Bürger gegen den Bau der zweiten Stammstrecke. In Haidhausen haben Gegner bereits mehrfach protestiert - und versucht, mit Plakaten auf die Auswirkungen des Projekts hinzuweisen. (Foto: Stephan Rumpf)
  • Der Streit um den Bau der zweiten S-Bahn-Stammstrecke in München beschäftigt erneut den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof.
  • Bürger aus Haidhausen fürchten um ihre Häuser, weil der Tunnel unter dem Viertel hindurchführen soll.

Von Thomas Anlauf

Ein haushoher Haufen Erde erhebt sich hinter dem dunklen Bauzaun. Vor dem Bettenhaus ist die Schrammerstraße aufgerissen, schwarze Rohre kommen in einem tiefen Loch zum Vorschein. Auf der Treppe des Infozentrums der Deutschen Bahn blicken drei Baustellenbegeisterte hinab auf den Verhau von Absperrgittern, Rohren und Baufahrzeugen, der seit Juni auf der ehemaligen Wiese des Marienhofs hinter dem Münchner Rathaus besichtigt werden kann. Es geht offenbar voran, die Bauarbeiter des Milliardenprojekts zweite Stammstrecke graben sich täglich tiefer in den Untergrund der Münchner Altstadt.

Knapp zwei Kilometer entfernt sitzt Sabine Zimmermann im Saal 5 des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs. Sie und Ferdinand Schuster haben einen mächtigen Gegner verklagt: die Bundesrepublik Deutschland. An diesem Donnerstag ist der halbe Sitzungssaal voll mit Juristen, Gutachtern, auch neugierige Prozessbeobachter vor allem aus Haidhausen sind in die Bayerstraße gekommen, um die Verhandlung zu verfolgen. Sie alle sind da wegen der "eisenbahnrechtlichen Planfeststellung (Münchener S-Bahn Stammstrecke, PFA 3 (neu)".

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Für Sabine Zimmermann geht es in dem Prozess schlicht um Enteignung. Sie und Schuster sind Eigentümer eines alten Wohnhauses in der Weißenburger Straße zwischen Pariser Platz und Orleansplatz. Das Problem ist: Der geplante Tiefbahnhof für die zweite Stammstrecke nahe dem Ostbahnhof "endet direkt unter meinem Haus", sagt Sabine Zimmermann. "Ich als Eigentümerin werde quasi enteignet."

Ihre Befürchtung teilen viele Haidhauser, weil die zweite Stammstrecketief unter dem Viertel hindurchführen soll. Der Verwaltungsgerichtshof muss mehrere Klagen verhandeln, bereits in der vergangenen Woche trafen sich Wohnungseigentümer aus der Inneren Wiener Straße mit ihren Anwälten vor dem Verwaltungsgerichtshof. Die Planungen der DB Netz AG sehen vor, dass genau unter dem Grundstück mit 180 Wohnungen sowie 20 gewerblichen Einheiten der Tunnel für die zweite Röhre verlaufen soll. Die Wohnungseigentümer befürchten Gebäudeschäden, die laut einem der Kläger bisher von Seiten der Bahn nicht ausgeschlossen werden konnten. Dazu befürchten die Bewohner jahrelangen Baulärm und Schmutz, in den nahegelegenen Maximiliansanlagen ist zudem eine weitere Großbaustelle geplant.

Sabine Zimmermann geht es "überhaupt nicht um Lärm und Dreck", wie sie am Donnerstag im Sitzungssaal sagt. Sie fürchtet schlicht um ihr Haus. Das Gebäude ist um die 100 Jahre alt, einige der Nachbarhäuser in der Weißenburger stehen unter Denkmalschutz. Die Klägerin hat Sorge, dass mit dem Bau der Röhre in 40 Metern Tiefe die Standsicherheit ihres Hauses gefährdet ist. Außerdem hat sie erfahren, dass "ein 60 Meter tiefer Brunnen mitten im Hof gebohrt werden" soll.

Was die Haidhauserin besonders ärgert, ist das Beharren der Bahn auf dem Bau der sieben Kilometer langen Trasse durch die Innenstadt. Sie hält die zweite Stammstrecke "für die schlechteste Lösung" der Verkehrsprobleme in München. Zumal für die vier Milliarden Euro, die der Bau des Mammutprojekts voraussichtlich kosten soll, nicht einmal neue Gebiete erschlossen würden. Dass die Röhre wirklich einer Nutzen-Kosten-Analyse standhält, hält sie für fraglich. Diese "wirkt doch schöngerechnet", sagt sie.

Auch um diese Frage dreht sich der Prozess vor dem Verwaltungsgerichtshof in den ersten Stunden der auf zwei Tage angesetzten Verhandlung. Klägeranwalt Eike Schönefelder etwa kritisiert, dass er das von der Bahn erstellte Nutzen-Kosten-Verhältnis bislang nicht vorliegen habe. Es werde von den Planern behauptet, dass die zweite Stammstrecke maßgeblich die Attraktivität der S-Bahn steigere. Dabei sei "überhaupt nicht sicher, ob die S-Bahn-Fahrer alle begeistert in die Hände klatschen".

Gutachter Martin Vieregg will sogar errechnet haben, dass durch die langen Wege in den neuen Bahnhöfen sowie durch das erzwungene Umsteigen vieler Fahrgäste, wenn sie die Haltestellen der bestehenden Stammstrecke anfahren müssen, ein negatives Nutzen-Kosten-Ergebnis herauskomme. Dem widerspricht allerdings Bernd Kollberg, der für die Bahn als externer Gutachter im Prozess sitzt. Die künftigen Express-S-Bahnen der zweiten Stammstrecke seien schließlich schneller in der Röhre unterwegs, damit sei der Fahrgast auch früher am nötigen Umsteigepunkt, etwa in Laim.

"Das Verfahren ist komplex", räumt der Vorsitzende Richter dann auch zum wiederholten Male bei den Stammstrecken-Prozessen ein. Die Verhandlung dauert an. Und die Bauarbeiter am Marienhof graben sich unbeirrt weiter in den Untergrund.

© SZ vom 17.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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