Ausstellung über Marcel Proust:In der Welt eines Nachtarbeiters

"Cher ami . . ." : Das Literaturhaus München zeigt die Ausstellung "Marcel Proust im Spiegel seiner Korrespondenz".

Kristina Maidt-Zinke

Er hasse Briefwechsel, schrieb Marcel Proust im Frühjahr 1916 an Lucien Daudet. Ungeachtet dessen beglückte er den Freund mit Hunderten von Briefen, aber das war eine quantité négligeable im Verhältnis zur Gesamtmenge der Korrespondenz, die er über einen Zeitraum von knapp vier Jahrzehnten unterhielt.

Ausstellung über Marcel Proust: Ein fleißiger Briefschreiber: Der französische Schriftsteller Marcel Proust, hier auf einem undatierten Archivbild.

Ein fleißiger Briefschreiber: Der französische Schriftsteller Marcel Proust, hier auf einem undatierten Archivbild.

(Foto: Foto: dpa)

Der amerikanische Forscher Philip Kolb hat den 21 Bänden seiner Ausgabe der "Correspondances de Marcel Proust" rund 4500 Briefe registriert, den kompletten Umfang des Proustschen Schriftverkehrs jedoch auf das Zwanzigfache geschätzt. Die Summe, technisch ermöglicht durch das damals hocheffiziente Pariser System von täglich mehrfacher Zustellung, Rohrpost und Boten, würde in unseren Tagen jeden E-Mail-Schreiber unter Suchtverdacht stellen.

Ein Süchtiger sui generis ist der Kölner Mediziner, Sammler und Publizist Reiner Speck, unermüdlich auf der Jagd nach Trophäen aus einer verlorenen Zeit, mit dem erklärten Ziel, den eigenen Genuss zu steigern und andere daran teilhaben zu lassen. Seine Bibliotheca Proustiana ist mindestens so berühmt wie seine Bibliotheca Petrarchiana, von seiner bedeutenden Kollektion zeitgenössischer Kunst nicht zu reden.

Als Mitbegründer und Präsident der deutschen Marcel-Proust-Gesellschaft hat Speck schon zweimal jenen Teil seiner Schatzkammer, der dem Autor der "Recherche" gewidmet ist, für das Publikum geöffnet: Eine Kölner Ausstellung im Jahr 1982 befasste sich mit Prousts "Werk und Wirkung", eine Hamburger Schau vor zehn Jahren galt seiner Positionierung "Zwischen Belle Epoque und Moderne".

Doch längst erlaubt es das Beuteglück des Enthusiasten, auch speziellere Themen zu bestücken: In Kooperation mit dem Kölner Museum für Angewandte Kunst zeigt das Literaturhaus München jetzt die Ausstellung "'Cher ami . . .'. Marcel Proust im Spiegel seiner Korrespondenz". Ausgehend von den 81 Originalbriefen des Dichters, die Reiner Speck bislang seiner Bibliotheca Proustiana einverleiben konnte, entfalten sich ein Lebensbild, ein Beziehungskosmos und ein Epochenpanorama in Autographen, Manuskripten, Fotografien, privaten Dokumenten und bibliophilen Kostbarkeiten.

Was den Literaturfreund entzückt, hätte Proust selbst nur zu gern verhindert. "Mir liegt unbedingt daran", schrieb er 1921, im Jahr vor seinem Tod, an Elisabeth de Clermont-Tonnerre, "dass keinerlei Briefwechsel mit mir aufbewahrt oder gar publiziert wird". Die Haushälterin Céleste Albaret berichtete von seinen späten Versuchen, Freunde zum Vernichten seiner Mitteilungen zu bewegen und ein postumes Publikationsverbot zu erwirken. Und sie überlieferte seine resignierende Vorahnung: "Kaum dass ich tot bin, werden alle meine Briefe veröffentlichen."

Selten hat sich eine Prophezeiung so eindrücklich erfüllt. Marcels Bruder Robert, Urologe wie Reiner Speck (der gut gelaunt das Wortspiel "Proustata" zu erwähnen pflegt), versuchte mit seiner Ausgabe der "Correspondance génerale de Marcel Proust", dem Wildwuchs Einhalt zu gebieten und dabei auszusortieren, was dem Ruhm eventuell hätte schaden können.

Es war jedoch nicht die Angst vor Indiskretionen oder Enthüllungen, die das problematische Verhältnis Prousts zu seinen Briefen begründete. Es war vielmehr die Befürchtung, zukünftige Leser könnten, in der Tradition des von ihm so scharf attackierten Literaturkritikers Sainte-Beuve, zwischen Biographie und Werk eine unzulässige Gleichsetzung vornehmen.

Er hingegen wünschte sich vom Publikum jene Erkenntnis, die er im ersten Brief an Jacques Rivière, der seinerseits Schriftsteller und Lektor im Verlag der Nouvelle Revue Française war, als hintersinniges Kompliment formulierte: "Endlich finde ich einen Leser, der ahnt, dass mein Buch ein wohldurchdachtes, streng konstruiertes Werk ist."

Das denkwürdige Schreiben teilt sich im Münchner Literaturhaus eine Vitrine mit elf weiteren Briefen Prousts an Rivière, aber auch mit Werken des letzteren, die im Schriftverkehr wiederum zum Thema wurden. So bescheiden das Konvolut der Briefautographen in Reiner Specks Bibliotheca Proustiana von der Anzahl her erscheinen mag, so beeindruckend ist die Komposition dieser Sammlung, die ein genuiner Connaisseur und zäher Fahnder betreut: Hier sind familiäre und private Korrespondenzen (samt Zeichnungen von Prousts Hand) ebenso aussagekräftig repräsentiert wie der Kontakt zu Verlegern, Redakteuren, Kritikern und Kollegen, der fachliche Austausch und die tägliche Fron in Gestalt der berühmten, handschriftlich ergänzten Korrekturbögen (placards).

Damit nicht genug: Rund um die Briefe hat der besessene Sammler ein staunenswertes Spiel von Verweisen und Bezügen inszeniert, indem er ihnen jeweils Bücher, Skizzen, Schriftstücke, Fotos, Objekte beigesellte, die im inhaltlichen und zeitlichen Kontext von Bedeutung sind - "Korrespondenzen" im übertragenen Sinne, die sich prinzipiell ins Unendliche verzweigen.

Aus dem Zwang zur Beschränkung ergaben sich hier neun in lockerer Chronologie verbundene Themen-Vitrinen in einem intim anmutenden Raum, schwach illuminiert zum Schutz der empfindlichen Originale, was die atmosphärische Stimmigkeit rund um den Nachtarbeiter Proust erhöht. Einige Säulen und ein Leuchtbild der Fensterrosette aus der Kathedrale von Laon verbreiten eine sakrale Aura, üppig-lebensweltlich konterkariert durch Fotos vom alten Paris, zeittypische Gemälde und Filmausschnitte, in denen leibhaftige Briefpartner Prousts sich an das schwierige Genie erinnern.

Zum unentbehrlichen Instrument wird der Audioguide, der Stimmen und Musik (etwa Kompositionen des Jugendfreundes Reynaldo Hahn) zum Erklingen bringt und die Briefe in deutscher Fassung hörbar werden lässt.

Reiner Specks Ko-Kurator, der in Paris lehrende Literaturwissenschaftler Jürgen Ritte, hat sich als Übersetzer wie auch als Mitherausgeber des prachtvollen zweisprachigen Katalogbuchs hochverdient gemacht. Eine Laterna Magica ist zu bewundern, wie Proust sie benutzt haben könnte. Und sogar eine echte Reliquie schimmert im Halbdunkel - das Medaillon mit der Haarlocke, die Céleste Albaret dem toten Dichter stahl.

"Cher Ami . . .". Marcel Proust im Spiegel seiner Korrespondenz. Literaturhaus München, bis 7. 6. Katalog 49,80 Euro.

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