Ausflugswahnsinn:Die Völkerwanderung in die Berge

Ausflugswahnsinn: Eine wahre Bergidylle mit Blick auf den Buchstein - wären da nur nicht diese Menschenmassen auf der Tegernseer Hütte.

Eine wahre Bergidylle mit Blick auf den Buchstein - wären da nur nicht diese Menschenmassen auf der Tegernseer Hütte.

(Foto: Martin Hammer)
  • Am Wochenende rücken die Münchner gern zum Bergwandern aus - und nehmen die Probleme der Stadt gleich mit.
  • Egal, ob mit dem Auto oder der Bahn: Entspannt ist die Anreise auf keinen Fall.
  • Doch es gibt gute Alternativen für ein entspanntes Herbstwochenende. Man muss nur die Aktivitäten antizyklisch planen.

Von Dominik Prantl

Dieser Tage, wenn die Natur noch einmal ihre herbstlichen Spezialeffekte zündet und sich der Oktober so farbig präsentiert, als hätte die Dirndldesignerin Lola Paltinger nun auch noch die Bäume eingekleidet, erwacht der gemeine Münchner und der durchaus artverwandte Münchner Speckgürtler am Wochenende mit einem leichten Jucken in den Füßen. Eine eher harmlose Zivilisationskrankheit im bergnahen Ballungsraum, hervorgerufen durch eine innere Stimme, die da sagt: Ich muss jetzt raus!

Das leichte Jucken in den Füßen führt dazu, dass die Kleinfamilie ihre vollgefederten Canyon-Mountainbikes auf dem Radständer ihres braunmetallic-farbenen VW-Busses montiert, während der Nachbar schon einmal die Wanderschuhe im Kofferraum des Porsche-Cabriolet platziert. Dann geht es Richtung Süden, ganz individuell, mit hunderttausend anderen Individualisten. Das Schlimmste an diesem Jucken in den Füßen ist nämlich: Es verwandelt uns am Wochenende in Herdentiere, in Berglemminge.

Das Berglemming-Phänomen beruht auf einem Paradoxon: Der Münchner hält München auch deswegen für die schönste Stadt der Universums, weil er so fix draußen ist, sobald er der Stadt überdrüssig geworden ist und sich ganz schnell im schönsten Umland des Universums wiederfinden möchte. Und sofern der Münchner nicht gerade geschäftlich zu tun hat und dafür Richtung Norden fährt, nach Ingolstadt, Nürnberg oder zum Flughafen in Erding, düst er in Richtung Süden. Der Norden bedeutet Arbeit. Der Süden aber steht für: Freizeit.

Über das Jahr betrachtet hat die Freizeit verschiedene Gesichter; sie sieht mal aus wie Riva am Lago di Garda oder auch wie eine Südtiroler Speckplatte zu einem Glaserl Traminer. Nur eignet sich der Oktober wegen eines im Vergleich zum Frühjahr chronischen Mangels an potenziellen Ferientagen weniger für den obligatorischen Gardasee-Besuch und erst recht nicht für einen ausgedehnten Toskana-Trip.

Die Tage sind zu kurz für die ganz großen Bergtouren im Alpeninneren; sie sind tagsüber zu frisch für das Baden im Starnberger See, abends zu kalt zum Grillen an der Isar und insgesamt wiederum viel zu sonnig für einen Besuch im Museum. Deshalb wird kollektiv eben das wiederentdeckt, was unter dem Namen "Münchner Hausberge" und "Bergtouren für Langschläfer" Eingang in die Alpinliteratur gefunden hat: Ross- und Buchstein zum Beispiel, der Jochberg, die Aueralm und all die anderen Gipfel und Gipfelchen und Hütten und Almen im Tagesausflugsradius südlich von München.

Vom Stau in der Stadt zum Stau im Gebirge

Dieser lemminghafte Exodus wirkt sich freilich kontraproduktiv auf die vom Alltagsadrenalin so erholungsbedürftige Großstadtseele aus. Vor der Ent- steht erst einmal die Anspannung, vor dem Gipfelpanorama der Blick auf überfüllte Bahnsteige oder auf kilometerlange Blechlawinen auf Autobahnen und Landstraßen. "Bergsport ist auch Motorsport", soll ein ehemaliger Präsident des Deutschen Alpenvereins schon vor 30 Jahren gesagt haben.

Abgesehen davon, dass der Deutsche Alpenverein mit inzwischen offiziell 1,184 Millionen Mitgliedern - von denen wahrscheinlich mindestens 1,183 Millionen südlich der Donau wohnen - als oberster Bergsport-Förderer des Landes genannt werden kann, stimmt der Satz heute oft gar nicht mehr. Motorsport bedeutet Geschwindigkeit am Limit. Bergsport aber ist heute erst einmal eher Standgas, jedenfalls spätestens ab dem Autobahnkreuz München Süd oder am Autobahnende der A95 nach Garmisch.

Wenn sich die Stadt in die Berge verlegt

Wer der dystopisch anmutenden Stadtflucht mit entsprechender Staugarantie entkommen möchte, kann natürlich auf die Bahn umsteigen. Die heißt im Falle des bergorientieren Münchners meistens BOB, das Akronym für Bayerische Oberlandbahn. Die BOB schaut ein bisschen aus wie eine ICE-Sparversion, geht immerhin schneller als Standgas und ist umweltfreundlicher als VW-Bus und Porsche. Stressfrei ist sie auch häufig, nur garantiert nicht an einem schönen Oktobersamstag.

Dann rammt einem der Mountainbiker seine Breitreifen von hinten in die schon leicht deformierten Knie, während einem der rüstige Rentner den 60-Liter-Rucksack samt Wanderstöcken an die Nase drückt und man selbst dem Knirps auf Hüfthöhe versehentlich den Ellbogen über die Schläfe zieht. Wobei das Hinkommen manchmal noch der einfachere Part ist. Entrüstete Ausflügler berichten, wie sie auf der Rückfahrt an der Haltestelle Fischhausen-Neuhaus von der BOB einfach stehen gelassen wurden und sich nach mehrstündiger Wartezeit schließlich in einer Art Einzelkämpfer-Mission bis nach Schliersee durchschlagen mussten.

Ach, von wegen Einzelkämpfer. Der Berggänger denkt dieser bunten Dirndldesigner-Tage gerne an den Film "Falling Down", bei dem Michael Douglas als unauffälliger, staugeplagter Bürger namens William Foster irgendwann die Faxen dicke hat und schließlich mit einem Maschinengewehr im Fastfood-Laden seinen Burger bestellt. Es ist nämlich keineswegs so, dass die Erholung eintritt, sobald man nach stundenlanger Anfahrt durch verstopfte Täler den Parkplatz am Fuße des Hausbergs erreicht.

Vielmehr gibt es hier die endgültige Gewissheit, dass der gesamten Stadt tatsächlich das Kunststück geglückt ist, sich innerhalb eines Vormittags in die Berge zu verlegen, Parkplatznot inklusive. Wurden all die anderen, um ohnehin viel zu kleine Lücken konkurrierenden William Fosters adäquat verflucht, wird das Auto schließlich näher am eigenem Heim als am Hausberg geparkt.

Erstaunlicherweise haben die anderen aber nicht nur den besseren Parkplatz, sondern auch den längeren Atem. Das mag mit der professionellen Ausrüstung zusammenhängen, die vermuten lässt, dass Herr Porsche und Familie VW tags zuvor noch das Sportgeschäft leergekauft haben - und zwar nicht den kleinen Laden ums Eck, sondern mindestens den Sport Schuster mit seinen elf Etagen und 18 Kassen. Jedenfalls findet man sich oben auf der Hütte erneut in der Warteschlange und sucht verzweifelt noch einen Platz.

Neben dem meist exzellenten Spinatknödl bleibt als Trost, dass mit dem November das Jucken in den Füßen etwas nachlassen wird. Es setzt dann meist mit dem ersten Schneefall wieder ein und sendet das untrügliche Signal, endlich die Langlauf- und Tourenskier aus dem Keller zu holen. Vielleicht pfeifen wir diesen Winter aber auch einfach auf die Berge und radeln dorthin, wo sicher kein Mensch sein wird: an die Isar zum Grillen.

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