Aufklärung für geistig behinderte Jugendliche:Lektionen in Sachen Liebe

Für Teenager mit geistiger Behinderung ist die erste Liebe ziemlich kompliziert. Die Müchnerin Steffi Geihs klärt die Jugendlichen auf. Denn schon vor dem ersten Date gibt es viele Hürden.

Anna Fischhaber

Tina, 17, weiß nie genau, wie viel Geld sie an der Supermarktkasse bezahlen muss. Manchmal irrt sie sich mit der Uhrzeit. Tina hat eine geistige Behinderung. Einige Dinge fallen ihr deshalb schwerer als anderen Jugendlichen. Die Sache mit Paul zum Beispiel.

Aufklärung für geistig behinderte Jugendliche: Sozialpädagogin Steffi Geihs hat einen Liebesroman für geistig behinderte Jugendliche geschrieben.

Sozialpädagogin Steffi Geihs hat einen Liebesroman für geistig behinderte Jugendliche geschrieben.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Tina ist die Hauptfigur in einer Art Aufklärungsroman. In Steffi Geihs erstem Roman. Eigentlich wollte die 31-Jährige mit den Jugendlichen, die sie in einer heilpädagogischen Tagesstätte in Großhadern betreut, nur über die erste Liebe reden. Dann hat sie festgestellt, dass es für Menschen mit geistiger Behinderung keine Literatur zu diesem Thema gibt. Deshalb hat die Münchnerin selbst ein Buch für die Jugendlichen geschrieben, das Mitte Mai deutschlandweit erschienen ist.

"Tina ist verliebt" erinnert an ein Kinderbuch mit bunten Bildern, großer Schrift und einfacher Sprache, das Thema allerdings richtet sich an Jugendliche. Es geht darum, wie es sich anfühlt, wenn man Schmetterlinge im Bauch hat, wenn man eifersüchtig ist, wenn man zum ersten Mal jemanden küsst. Das Besondere daran: Die Geschichte wird aus der Perspektive der Jugendlichen, aus Tinas Perspektive, erzählt.

Geihs hat soziale Arbeit studiert, eigentlich wollte sie immer in einem Gefängnis arbeiten, doch dann fand sie keinen Job und hat erst einmal in der heilpädagogischen Einrichtung angefangen. Inzwischen macht sie das seit acht Jahren. Für ihr Buch hat sie die Geschichten ihrer Schützlinge gesammelt.

In ihrer Gruppe sind Jugendliche mit Down-Syndrom, Autisten, manche haben eine Behinderung, für die es gar keinen Namen gibt, andere nur eine Lernschwäche. Geihs liest mit ihnen, rechnet mit ihnen, kocht mit ihnen. Sie erklärt, wie man eine Freundschaft schließt und wie man sich nach einem Streit wieder verträgt. Und sie hilft in Liebesdingen. Fit fürs Leben machen, nennt sie das.

"Alles ist noch ein bisschen komplizierter"

"Bei Jugendlichen mit geistiger Behinderung ist Liebe auch ein großes Thema", sagt Geihs. "Nur das alles noch ein bisschen komplizierter ist." Für ein ganz normales Gespräch, ein Telefonat, einen Liebesbrief fehlen vielen die Worte. Andere haben kein Gefühl für Nähe und Distanz und sind beim Kennenlernen zu stürmisch - wie Tina, die Paul bis auf die Jungentoilette folgt. Eine der Geschichten, die Geihs mit ihren Jugendlichen erlebt hat.

Auch beim ersten Date gebe es viele Hürden: "Die Jugendlichen sind immer auf ihre Eltern angewiesen, die müssen sie hinfahren und wieder abholen", sagt Geihs. Doch gerade Eltern von geistig behinderten Kindern hätten oft Schwierigkeiten loszulassen. Viele halten ihre Kinder für zu jung. Auch Sex ist ein Thema.

Einige Eltern hätten Angst vor ungewolltem Nachwuchs, um den sie sich dann auch noch kümmern müssten, erzählt Geihs. Sie will nun noch ein zweites Buch schreiben. Darin soll es um die Rechte und Pflichten in einer Beziehung gehen. Und um Sex und Verhütung.

Ein Recht auf Liebe

Die Sozialpädagogin ist davon überzeugt, dass sich ihre Bücher verkaufen - schließlich sei die Zielgruppe riesig: Etwa 400.000 Jugendliche werden in Deutschland an Förderschulen unterrichtet. Natürlich können nicht alle das Buch selbst lesen, aber Geihs hat Tinas Geschichte in ihrer Gruppe bereits vorgelesen - und die Jugendlichen haben an den richtigen Stellen gelacht.

Auch ein paar E-Mails von Eltern hat sie schon bekommen. Eltern, die lange nach so einem Buch gesucht haben und nun mehr wollen. "Ein Vorschlag war, dass ich Harry Potter für Kinder mit geistiger Behinderung übersetze", erzählt die Autorin.

Geihs sagt oft "geistige Behinderung". Sie findet es wichtig, offen mit dem Thema umzugehen. Für Menschen mit körperlicher Behinderung sei in den vergangenen Jahren viel passiert, Menschen mit geistiger Behinderung stünden dagegen selten in der Öffentlichkeit. "Sie werden ausgegrenzt", sagt Geihs. Deshalb gebe es auch so viele Vorurteile.

Geihs bekommt oft die Frage gestellt, ob ihre Jugendlichen sexuell ungehemmt seien oder aggressiv. Besonders schwierig werde es, wenn sie ihre Liebe offen zeigten. Geihs hat oft beobachtet, wie Menschen dann entsetzt wegschauen. Fast so, als hätten die Jugendlichen kein Recht auf Liebe.

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