Aubing/Lochhausen:Münchens Arche Noah

Die Fläche mit der größten Artenvielfalt der Landeshauptstadt liegt an den Böhmerweihern zwischen Lochhausen, Aubing und Gröbenzell. Dort haben Biologen 83 Rote-Liste-Arten nachgewiesen, die Naturschützer und der Erholungsflächenverein gemeinsam erhalten wollen

Von Gerhard Eisenkolb, Gröbenzell

Die Arche Noah Münchens liegt zwischen Lochhausen, Aubing, Puchheim und Gröbenzell an den beiden Böhmerweihern. Das für Botaniker und Zoologen so spektakuläre Gelände ist ein dem ersten Anschein nach völlig unscheinbarer Ort mit zwei Seen, über die sich Stromleitungen spannen. Was zuerst mal irritiert. Aber genau dort haben Naturschützer und Biologen auf einer Fläche, auf der bis 1976 Kies abgebaut worden war, insgesamt 83 vom Aussterben bedrohte Rote-Liste-Arten nachgewiesen. Inzwischen wird vermutet, dass deren Anzahl bei mehr als hundert liegt.

Eine vergleichbare Vielfalt an wilden Orchideen wie dem Fleischfarbenen Knabenkraut, Pflanzen wie dem Karlszepter oder Mooskönig, Reptilien, gefährdeten Vögeln, Amphibien, Käfern und insgesamt 17 Libellenarten sowie Krebsen ist sonst nirgends mehr auf so engem Raum im Münchner Gebiet zu finden. Von den 17 Libellenarten stehen wie die Helm-Azurjungfer fünf auf der Roten Liste. Weshalb Heinz Sedlmeier, Geschäftsführer der Münchner Kreisgruppe des Landesbundes für Vogelschutz (LBV), das relativ kleine Biotop auch als das Spektakulärste bezeichnet, was an Artenvielfalt auf Münchner Flur zu finden ist.

Dieser ökologische Schatz drängt sich nicht auf, er will entdeckt werden. Liegt er doch im Niemandsland der Münchner Peripherie zum Landkreis Fürstenfeldbruck in Sichtweite zu den Häusern an der Lena-Christ-Straße in Gröbenzell. Also in einer Gegend, für die sich lange niemand interessierte, und trotzdem fast am Rand eines Wohngebiets. Auch die Entstehung des Biotops ist dieser Randlage und einem Zufall zu verdanken. Der Kiesabbau war vor genau 40 Jahren zu einer Zeit eingestellt worden, als im Umfeld der beiden Weiher noch keine intensive Landwirtschaft mit dem inzwischen üblichen Einsatz von Pestiziden und Düngemitteln betrieben wurde. Weil es damals die jetzigen Agrarsteppen noch nicht gab, konnte sich in Jahrzehnten auf der Brache die Flora der damals noch naturnahen Umgebung auf natürliche Weise "einsäen", wie Sedlmeier sagt. Die Arche Noah bildete sich also ungewollt.

In diesem nährstoffarmen Rückzugsgebiet fanden solche Pflanzen, wie sie früher für die Münchner Schotterebene typisch waren, einen idealen Lebensraum. Auch, weil die Pflanzen ebenso anspruchslos sind wie die sich selbst überlassenen Kiesabbauflächen mit einem mageren Kalkkiesboden fast ohne Humus. Das von Menschen geschaffene Sekundär-Biotop ist mit Weiden, Sanddorn und Birken bewachsen. Die kargen Freiflächen, die mal größer oder nur winzig sind, präsentieren sich abwechselnd als Trockenrasenfläche oder feucht als beginnendes Niedermoos. Das spektakuläre Konzert von Zilpzalp, Fitis, Mönchsgrasmücke und Sumpfrohrsänger - an den Weihern brüten insgesamt 30 bis 40 Vogelarten, unter ihnen zwei Kuckucksweibchen, die ihre Eier Gelegen des häufig vertretenen Sumpfrohrsängers unterschieben, oder auch mal ein Schwarzstorch auf Nahrungssuche - fällt sogar einem Nichtvogelkundler in der Stille eines sonnigen Junimorgens angenehm auf. Schwieriger ist es dagegen, die seltenen Gräser, Pflanzen oder auch Tiere zu finden. Dazu bedarf es des geschulten Blicks von Experten wie Ernst Habersbrunner, dem Vorsitzenden der Ortsgruppe München West des Bundes Naturschutz.

Ein Spaziergänger läuft auf den Trampelpfaden zu und um die Seen nämlich höchstwahrscheinlich achtlos an Pflanzen wie dem unscheinbaren, nur etwa fünf Zentimeter hohen Birngrün, dem gelb blühenden Knolligen Mädesüß oder der blau blühenden Großen Kugelblume vorbei. Oder er würde sie sogar zertrampeln. Das wäre schade, weil für das Birngrün kein anderer Standort in der Region mehr bekannt ist. Überhaupt sind die beiden Seen für einiges, was hier wächst, einer der letzten dokumentierten Standorte in Bayern im Naturraum. Wenn man weiß, dass auf einem Quadratmeter des mageren Kiesbodens 35 bis 40 Pflanzenarten gedeihen, von denen zehn als gefährdet gelten, bekommt man Hemmungen, sich hier herumzutreiben.

Das Schlimmste, was laut dem LBV-Geschäftsführer passieren könnte, wäre, dass Spaziergänger die letzten Exemplare der sechs wilden Orchideenarten wie das Große Zweiblatt oder das Helm-Knabenkraut ausgraben und in ihrem Hausgarten einpflanzen. Das wäre das Ende des Artenreichtums. Und auch die neuen Besitzer hätten keine Freude an ihren neuen Pflanzen, weil diese in Symbiose mit Pilzen leben und an anderen Standorten eingehen würden. Um das zu verhindern, werden die Standorte der Orchideen wie ein Geheimnis gehütet.

Viele der Rote-Liste-Arten wären höchstwahrscheinlich schon längst von Weiden und Birken überwuchert worden und damit verschwunden, wenn nicht ehrenamtliche Helfer vom Landesbund für Vogelschutz und vom Bund Naturschutz schon zu einer Zeit in Guerillataktik mit Pflegemaßnahmen begonnen hätten, als das 27 Hektar große Gelände einem Privateigentümer und noch nicht dem Erholungsflächenverein, der Stadt München sowie Puchheim und Gröbenzell gehörte.

Jens Besenthal, dem Geschäftsführer des Erholungsflächenvereins, obliegt nun die schwierige Aufgabe, ein Drittel der 27 Hektar in ein Erholungsgebiet mit Badesee umzuwandeln und gleichzeitig die unmittelbar angrenzende Arche Noah mit ihrer ganzen Artenvielfalt zu erhalten und zu schützen. Die Planung löste bereits einige Konflikte und Irritationen aus, vor allem bei den Grünen in Gröbenzell.

Inzwischen gibt es ein Konsenspapier und Heinz Sedlmeier vom LBV und Ernst Habersbrunner vom Bund Naturschutz beteuern, dass es möglich sei, am Rand des Biotops zumindest ein kleineres Erholungsgebiet zu schaffen. Sie vertrauen, wie sie bei einem Rundgang beteuern, Besenthal, und bezeichnen den Erholungsflächenverein als den perfekten Puffer. Erst dieser Puffer ermögliche den Ausgleich zwischen dem Naturschutz und dem ebenfalls berechtigten Anliegen der Anwohner auf ein Freizeitgelände. Die Böhmerweiher sind nämlich nicht nur ein ideales Biotop, sondern auch ein ideal gelegenes Erholungsgebiet, weil es von Puchheim, Gröbenzell und Lochhausen aus bequem zu Fuß zu erreichen ist.

Wie Ameisen und bestimmte Pflanzen an den Böhmerweihern gehen auch der Erholungsflächenverein und die Naturschützer eine Symbiose ein. Würde das Biotop nämlich nicht gepflegt, gäbe es dort in absehbarer Zeit kaum noch schützenswerte Pflanzen. Erst die finanzielle Unterstützung des Vereins ermöglicht es haupt- und ehrenamtlichen Helfern von LBV und Bund Naturschutz (BN), das Areal in seinem Istzustand zu erhalten. Zudem setzen die Naturschützer auf Aufklärung - die Besucher der Böhmerweiher sollen in Zukunft die einmalige Fauna und Flora kennen- und wertschätzen lernen - sowie auf eine geschickte Lenkung der künftigen Badegäste durch die Trennung der beiden Bereiche. Und sie vertrauen vor allem auch auf die Abschreckung durch ein Heer von Ameisen. Denn überall dort, wo die seltensten Arten gedeihen, leben auch besonders viele Ameisen. Schon nach einem kurzen Aufenthalt im Gebüsch krabbelt es am ganzen Körper. An so einem Ort breitet niemand freiwillig ein Badehandtuch oder eine Decke aus.

Obwohl es noch keine vom Münchner und Puchheimer Stadtrat oder dem Gröbenzeller Gemeinderat genehmigte Planung gibt, kooperieren der Erholungsflächenverein, LBV und BN seit dem vergangenen Winter. Nachdem Spezialisten die Standorte der gefährdeten Arten kartografiert hatten, wurden erstmals auf dem Gelände Wiesen gemäht und Sträucher entfernt. Mit dem Erfolg, dass sich die Orchideen in diesem Frühling ausbreiten. Nur eines wissen die Naturschützer nicht. Ob ihr vorläufiges Planungskonzept Bestand hat, das hängt von anderen ab, wie Ernst Habersbrunner sagt. Nur die Zeit, eventuell noch Jahre zu warten, bis das Planungsreferat entscheidet, lässt Habersbrunner und Sedlmeier die Natur nicht.

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