Aubing:Stoff für Erinnerungen

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Die Stadtteilwoche bietet ein Programm, das auch zum Nachdenken anregt

Von Ellen Draxel, Aubing

Das Zelt bebt. Schon von weitem sind Beat und Gesang der Troubleshooters zu hören, die Aubinger Soulband rockt das Viertel. "You sound like angels!" ruft Sänger David dem Publikum zu, das tanzend und klatschend die Cover-Songs mitgrölt. Dass das Zirkuszelt an diesem Freitagabend gut zwei Stunden nach Beginn des Konzerts nur zur Hälfte gefüllt ist, tut der Stimmung keinen Abbruch, im Gegenteil: Vom Rhythmus angelockt, strömen auch um kurz vor zehn noch vereinzelt Musikfans in die Sound-Arena.

Angebote für alle Altersgruppen: Auf dem Festplatz spielte die dreijährige Leni mit Papa und Mama ein Geschicklichkeitsspiel. (Foto: Robert Haas)

Fünf Stunden zuvor, um 17 Uhr, ist der Festplatz auf der ehemaligen Gotthardtrasse an der Ecke Radolfzeller/Altenburgstraße noch ein Kindertraum. Auf dem historischen Karussell reiten Zwei- bis Sechsjährige auf eisernen Pferden oder Eisbären und strahlen dabei übers ganze Gesicht. Ein paar Meter weiter wird geflippert und Mini-Billard gespielt, wer will, kann mit Victoria Eberle von der Spiellandschaft Stadt bunte CD-Kreisel basteln. "Die Festwiese ist diesmal sehr schön aufgebaut", lobt Eberle, "richtig kuschelig".

Die Band Wutzdog spielte im Zelt auf. (Foto: Robert Haas)

Das Gastrozelt öffnet um 18 Uhr, dann gibt es dort, begleitet vom mehrstimmigen Gesang mit satten Grooves der Gruppe Wutzdog, Chili con Carne nebst Kartoffelsuppe mit Wiener Würstchen und Thai-Curry in allen Variationen.

In Aubing-Lochhausen-Langwied ist dieser Tage Stadtteilwoche, und es ist viel los, nicht nur am Freitag. Am Vormittag integratives Jugendtheater im Ubo 9, ein Stück mit dem Titel "Helden", das sich als Forschungsreise ins eigene Selbst der Darsteller entpuppt. Abends spielt Rusty Stone in Aubings Kulturzentrum Country Blues, während Senioren im Bürgersaal am Westkreuz zu Seemannsliedern der im hanseatischen Outfit gestylten Isarmöwen schunkeln. Der Raum am Westkreuz ist voll, den Refrain von "Nimm mich mit, Kapitän, auf die Reise" kann jeder auswendig, es wird gemeinsam gesungen, gegessen und später bei lokalpolitischem Kabarett auch geschäkert und gelacht.

An der Ehrenbürgstraße waren Kunstwerke zu sehen, im Bild eine Skulptur von Stefan Reitsam. (Foto: Robert Haas)

Elvira Auer hat am Nachmittag schon einen großen Menschenpulk durch das Gelände der ehemaligen Schlafwagengesellschaft an der Brunhamstraße geführt. Die Sozialgeografin betreibt Stadtgeschichtsforschung und zeigt im türkischen Café Sürahi eine Ausstellung zum legendären Orient-Express. Sie hat auch den Erinnerungsraum an der Ehrenbürgstraße 9 mitkonzipiert, der am Abend ebenfalls geöffnet hat.

Auf dem Areal des früheren Zwangsarbeiterlagers, das heute viele Künstler und Kunsthandwerker mit ihren Ateliers und Werkstätten beheimatet, beginnt um 19.30 Uhr die "Nacht des Erinnerns". An vier Standorten bekommen die Besucher Eindrücke aus der Zeit des Nationalsozialismus vermittelt, in musikalisch umrahmten Erzählungen und Lesungen aus Zeitzeugentexten.

Sabine Kastius liest aus einem 2017 im NS-Dokuzentrum aufgenommenen Interview mit Anna Wladimirowna, die aus Russland verschleppt und zu Zwangsarbeit in Neuaubing gezwungen wurde. (Foto: Robert Haas)

Da nimmt Geschichtenerzähler Peter Keßler die Zuhörer ein Stück weit mit in seine eigene Familiengeschichte, lässt die Erinnerungen seiner "Omma" an die Ausgrenzung einer jüdischen Kaufmannsfamilie in dem kleinen Städtchen in Nordrhein-Westfalen wieder aufleben. Er erzählt von der alten Frau Rosenthal mit ihren glänzend schwarzen Haaren, die in der Reichspogromnacht plötzlich abgeschnitten waren, während "SS-Kerlchen" Ladeninventar und Möbel auf die Straße warfen. Frau Rosenthal, die zu trösten Oma Feldmann nicht fertig brachte in jener Nacht, wie sie später ein wenig widerwillig und nur auf Nachbohren ihrer Enkel zugegeben hat. Die Erinnerungen werden aber nach dem Tod der Oma plötzlich anders erzählt in der Familie Feldmann - als eine Geschichte von Zivilcourage. Denn selbstverständlich, so wird es Jahrzehnte später dem Cousin für seinen Schulaufsatz in den Füller diktiert, selbstverständlich hat Oma Feldmann sich nicht von den Nazis beeindrucken lassen, hat weiter Stoffe eingekauft bei den Rosenthals, hat sich beim Pfarrer für die jüdischen Nachbarn eingesetzt.

Bei der Lese- und Erzählnacht im Erinnerungsraum an der Ehrenbürgstraße sprach unter anderem Markus Nau. (Foto: Robert Haas)

Da liest Sabine Kastius aus einem 2017 im NS-Dokuzentrum aufgenommenen Interview mit Anna Wladimirowna aus der Nähe von Brijansk, die beim deutschen Angriff auf Russland verschleppt wurde ins Zwangsarbeiterlager von Neuaubing. Die dort an der Werkbank tagein, tagaus kleine Metallteile fertigen musste, immerzu hungerte, und die ihre zu Tode erschöpfte Mutter auf dem Germeringer Friedhof begraben musste, gleich nach der Befreiung durch die Amerikaner 1945.

Und da hofft Erzähler Markus Nau, dass die Zuhörer die eine oder andere Erinnerung von diesem besonderen Abend in Neuaubing nach Hause mitnehmen - und andere Menschen vielleicht gar nicht erst solche Erinnerungen haben müssen. Und die kleine Band - Akkordeon und Saxofon - spielt dazu den Song, den Louis Armstrong berühmt gemacht hat: "Wonderful World".

Die Stadtteilwoche in Aubing, Neuaubing, dem Westkreuz, Lochhausen und Langwied bietet noch bis einschließlich Mittwoch, 13. Juni, Kultur pur gratis. Mit gleich dreimal abendlichem Kabarett im Zirkuszelt: an diesem Montag mit den Musikern "Die drei Haxn", am Dienstag mit Franziska Wanninger und am Abschlussabend mit Single Martin Frank.

© SZ vom 11.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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