Armut in München:Für den großen Hunger zwischendurch

Immer mehr Münchner Schulen registrieren Armut bei Eltern - 1300 Kinder profitieren von der Schülerlunch-Aktion des SZ-Adventskalenders.

Monika Maier-Albang

Sie haben dem Essen Phantasienamen gegeben, und deshalb heißen die Fischstäbchen in der Klasse 5g der Helen-Keller-Realschule nur noch "Dönerstäbchen". An anderen Tagen gibt es Dönernudeln, Dönertaschen oder wie heute: Dönerschmarrn mit Apfelkompott, von dem Simon sich gleich einen Nachschlag holt.

Armut in München: Das warme Mittagessen für ihre Kinder wird nun durch Spenden des Adventskalenders der Süddeutschen Zeitung finanziert.

Das warme Mittagessen für ihre Kinder wird nun durch Spenden des Adventskalenders der Süddeutschen Zeitung finanziert.

(Foto: Foto: ddp)

Denn Döner, so erklärt er die ungewöhnliche Namensgebung, "ist lecker" - und seit alles Döner ist, kommen die Schüler noch lieber zum Mittagessen an ihrer Schule. Das "g" hinter der Jahrgangsstufe steht für Ganztagesklasse. Mit dem Ganztagesunterricht hielt an der Realschule in Johanneskirchen auch das Mittagessen Einzug. Noch sind die Kinder in einem Provisorium untergebracht: ein kleiner Raum, in dem ein paar Biertische dicht an dicht stehen.

Die artigen Kinder dürfen zuerst an den Speisewagen

Die Mensa wird erst im kommenden Schuljahr fertig sein; bis dahin muss man sich behelfen. Bis dahin müssen auch die Schüler besonders diszipliniert am Tisch sitzen und auf ihr Essen warten. "Sonst bräuchte man hier Ohrenstöpsel", sagt Traudel Eckl, die Köchin.

Um Ruhe in die Klasse zu bringen, haben die Lehrer mit ihren Schülern ein Ritual vereinbart. Die Kinder setzen sich, versuchen, nicht zu schwatzen und heben die Hand, damit die Lehrkraft sieht, dass sie es ernst meinen mit der Stille. Der Tisch, an dem zuerst Ruhe eingekehrt ist, darf auch als erstes zu Traudel Eckl an den Speisewagen. Dort gibt es ein Hauptgericht, dazu entweder Salat oder Obst. Und hin und wieder eine Nascherei zum Nachtisch.

Dass einige der Kinder, die hier zum Essen anstehen, das Mittagessen umsonst bekommen, weiß zwar die Lehrerin, die Kinder untereinander wissen es jedoch nicht. Und oftmals wissen nicht einmal die Kinder selbst, dass es ihren Eltern schwerfällt, den Betrag von jährlich 290 Euro für den Mittagstisch aufzubringen. Zum Schuljahresbeginn konnten Eltern, die in einer finanziellen Notlage sind, einen Antrag stellen, damit ihnen das Essensgeld erlassen wird. Ein gutes Dutzend Eltern von Fünft-, Sechst- und Siebtklässlern hat an der Helen-Keller-Realschule davon Gebrauch gemacht.

Das warme Mittagessen für ihre Kinder wird nun durch Spenden des Adventskalenders der Süddeutschen Zeitung finanziert. Seit 2007 gibt es den SZ-Schülerlunch, den die Lokalredaktion der Zeitung ins Leben rief, nachdem Experten wie Elfriede Seus-Seberich vom SOS-Familienzentrum in Berg am Laim auf die zunehmend prekäre Situation von Familien aufmerksam gemacht hatten.

Besonders hart sei die Situation für alleinerziehende Mütter, die von Hartz IV leben müssen, sagt Seus-Seberich. Die Kinder bekommen die Not doppelt zu spüren: Gespart wird am Essen, aber auch an kleinen Ausflügen. Zudem erleben viele Kinder Eltern, die frustriert und erschöpft von der Arbeit heimkommen. Gerade alleinerziehende Frauen, sagt Seus-Seberich, müssten oft die undankbarsten Jobs annehmen, bis spät abends arbeiten - und trotzdem reicht es nicht zum Leben.

Manche Kinder kommen mit zerschlissenen Schuhen in die Schule

Die Lehrer merken zwar, wenn sich in einer Familie die Situation zuspitzt. Wie bei Anna (Namen der Kinder geändert), die ein Geschwisterchen bekommen hat, weshalb nun das Einkommen der Mutter fehlt. Oder bei Sandra, die erzählt, dass ihre Eltern sich getrennt haben. Doch was können die Lehrer dagegen tun?

Bei großen Ausflügen, wie etwa ins Schullandheim, können die Eltern Zuschüsse beantragen. Doch bleibt da noch die Summe der kleinen Beträge. Deutschlehrerin Sylvia Eck hat schon mehrmals erlebt, dass bei manchen Kindern am Monatsende das Kopiergeld nicht kommt, obwohl das Kind ansonsten zuverlässig ist. "Da wird man hellhörig", sagt Eck. Horcht sie dann genauer hin, erzählen die Kinder häufig, dass der Papa ausgezogen ist.

Und von etlichen Müttern wissen die Lehrer, dass die Väter den Unterhalt nicht oder zu spät überweisen. Nun ist das Einzugsgebiet der Schule in Johanneskirchen und Oberföhring noch eines, in dem die Lehrer den "gesunden Mittelstand" beheimatet sehen.

Sie haben hier keine Kinder, die mit zerschlissenen Schuhen in die Schule kommen. Und trotzdem erleben sie seit ein paar Jahren, dass es in den Elternhäusern finanziell enger wird. Wenn sie beim Kopiergeld nachbohren müsse, dann sei ihr das natürlich peinlich, sagt Eck. Manchmal lässt sie es dann bleiben.

Der Schülerlunch entlastet die Eltern. "Das ist eine gute Sache", sagt Margot Obermeier, Schulleiterin am Werner-von Siemens-Gymnasium in Neuperlach. Auch hier gibt es seit einem Jahr den vom SZ-Adventskalender geförderten Mittagstisch. Die Anträge für den Zuschuss zu stellen, das sei "alles harmlos", sagt Obermeier. Und doch stand die Schule anfangs vor einem großen Hindernis: Es meldeten sich kaum Eltern, die das kostenlose Mittagessen für ihre Kinder in Anspruch nehmen wollten.

Die Schule hatte auf das Angebot im Elternbrief aufmerksam gemacht. Trotzdem kamen nur drei Rückmeldungen - bei rund 1000 Schülern. Am Gymnasium sei Armut "besonders versteckt", sagt Obermeier. "Die Eltern schämen sich bei uns noch mehr als anderswo zuzugeben, dass sie kein Geld haben." Der Elternbeirat überlegte gemeinsam mit einem Mitarbeiter aus dem Direktorium, was man tun könne.

Dann wälzte man Akten: Wer hat schon einmal um einen Zuschuss für den Schulausflug oder das Schullandheim angefragt? Von welcher Familie also wusste man, dass möglicherweise eine finanzielle Notlage vorliegt. Hundert Adressaten filterte die Schule heraus, hundert persönliche Briefe wurden verschickt. "Das war tagelange Arbeit", erinnert sich die Rektorin. Der Aufwand hat sich gelohnt. Statt drei Kinder nehmen nun mehr als 30 die Vergünstigung in Anspruch.

Im Schuljahr 2007/2008 standen für den Schülerlunch Spenden in Höhe von rund 470000 Euro bereit. Das sicherte etwa 1300 Kindern die kostenlose warme Mahlzeit. Hilfe kam auch von der Stiftung Soziales München, die von der Stadtsparkasse München gegründet wurde. Sie spendete einen Betrag in Höhe von 250000 Euro. Damit können bis zu 700 weitere bedürftige Kinder den Mittagstisch besuchen.

"in unserer Stadt sind mehr Familien auf Unterstützung angewiesen, als man vermutet"

Angeboten wird er in München mittlerweile an 53 Förderzentren, Grund-, Hauptschulen und Realschulen, Gymnasien, Kinder- und Familienzentren sowie Tagesheimen. "Obwohl das durchschnittliche Einkommen in München vergleichsweise hoch und das Armutsrisiko verhältnismäßig gering ist, sind auch in unserer Stadt mehr Familien auf Unterstützung angewiesen, als man vermutet", beschreibt Harald Strötgen, Vorstandsvorsitzender der Stadtsparkasse München, die Situation. Er hofft, dass durch den Schülerlunch den Kindern zumindest eine schmerzhafte Erfahrung erspart bleibt: frühzeitig ausgegrenzt und stigmatisiert zu werden.

Die Stigmatisierung zu vermeiden, ist auch den Lehrern an der Helen- Keller-Realschule wichtig. So wird miteinander gegessen, aber keiner fragt, woher das Geld kommt. Nach einer halben Stunde sind die Schalen mit dem "Dönerschmarrn" leer, wer einen Nachschlag wollte, hat ihn bekommen. Nun saust die Klasse raus zu einem Fach, das die Kinder besonders gern mögen: "Bewegung" nennen sie es hier. Nur vier Kinder bleiben im Raum: Simon und Tobias putzen die Bierbänke sauber, Anna und Sven gehen mit Frau Eckl in die Küche.

Die ersten Teller hat die Spülmaschine schon im Schnelldurchlauf gesäubert; nun reiben die Kinder Geschirr und Besteck trocken. Anna sortiert die Trinkbecher nach Farben, stellt sie zu den Tellern auf den Wagen und fährt diesen hinüber zum Speisesaal. Um fünf nach eins steht die nächste Klasse vor der Tür, es ist die 6g. Für sie hat Traudel Eckl gleich sechs Schalen Kaiserschmarrn warm gemacht. "Unsere Heuschrecken kommen", scherzt die Köchin, denn in der 6g sitzen die besonders Hungrigen.

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