Archiv der Lokalbaukommission:Chaos mit System

Archiv der Lokalbaukommission: Blaues Universum: 320 000 Akten liegen unter dem Bürgersteig der Blumenstraße - die Dokumente der Lokalbaukommission.

Blaues Universum: 320 000 Akten liegen unter dem Bürgersteig der Blumenstraße - die Dokumente der Lokalbaukommission.

(Foto: Catherina Hess)
  • Die Lokalbaukommission hütet das Gebäude-Gedächtnis Münchens in 14 130 blauen Plastikkisten, verborgen unter dem Trottoir vor dem Haus Blumenstraße 19.
  • In 4710 Blechwannen stecken zwischen Aktendeckeln alle Bauakten, mit denen die Behörde seit etwa 1840 befasst war: 320 000 Dokumente zu jedem Haus an jeder Straße Münchens.
  • Ein 5300 Kubikmeter großer Würfel aus Aluminium wurde in die Erde versenkt; die Regale mit einer Länge von 8,2 Kilometern können ein Gewicht von 470 Tonnen aufnehmen.

Von Stefan Mühleisen

Die Topografie einer Stadt ist wie das Gedächtnis eines Menschen: Teile der Vergangenheit werden immer mal wieder eingerissen, auf dem Geröllhaufen entsteht Neues. Gedankenrudimente türmen sich auf verschütteten Schichten, so wie in einer Stadt Häuser auf Ruinen gebaut werden. Allein, für die Bewahrung seiner Gedankengebäude ist jeder selbst verantwortlich - doch wer kümmert sich darum, dass die wechselvolle Anatomie Münchens nicht vergessen wird? Neben dem Stadtarchiv tut das die Lokalbaukommission (LBK). Die Behörde hütet das Gebäude-Gedächtnis Münchens in 14 130 blauen Plastikkisten, verborgen unter dem Trottoir vor dem Haus Blumenstraße 19.

Dort, 20 Meter unter der Erde, drückt Peter Kiendl auf den Lichtschalter. Die Neonröhren springen an, schummriges Licht kriecht die Regalreihen empor. Kiendl lässt den Blick schweifen über die aufgereihten Kisten, die sich wie riesige Legostein-Mauern bis zur Decke strecken - "unsere Kathedrale", sagt Kiendl. Er ist der Chefwächter dieses Archivs, der Leiter der Zentralregistratur der Lokalbaukommission. 4710 Blechwannen bergen die Regale, in denen je drei der blauen Kisten lagern. Darin stecken zwischen Aktendeckeln alle Bauakten, mit denen seit etwa 1840 die Behörde befasst war: 320 000 Bauanträge, Baugenehmigungen, Schriftverkehr, Pläne - Dokumente zu jedem Haus an jeder Straße Münchens haben ihren Platz in einer der blauen Kisten.

Archiv der Lokalbaukommission: Peter Kiendl ist Leiter der Zentralregistratur der Lokalbaukommission.

Peter Kiendl ist Leiter der Zentralregistratur der Lokalbaukommission.

(Foto: Catherina Hess)

Die LBK ist die Genehmigungsbehörde für alle Bauanträge in der Stadt. Egal, ob Hütte oder Hochhaus - wer auf Münchner Grund etwas errichten will, muss von der Behörde die Erlaubnis einholen. Die derzeit 250 Mitarbeiter bearbeiten jährlich an die 5000 Anträge, da häuft sich eine Menge Papier an. Eine regelrechte Flut überschwemmt Tag für Tag die Behörde, irgendwann ist das Maß voll. Im Haus der LBK zeichnete sich dies Ende der Neunzigerjahre ab. Die Kapazität war erschöpft, ein neues Archiv musste her, 2006 war es fertig.

Das Herzstück des Archivs ist ein Roboter, der Akten apportiert

Ein 5300 Kubikmeter großer Würfel, ummantelt von Aluminiumwänden, wurde in die Erde versenkt; die Regale mit einer Länge von 8,2 Kilometern können ein Gewicht von 470 Tonnen aufnehmen. Allgegenwärtig im Geäst der Gestänge ist ein dumpfes Dröhnen vom Gebläse, das die klimatischen Bedingungen im Archiv regelt. Der Sauerstoffgehalt der Luft ist auf 13 Prozent reduziert, um das Brandrisiko zu minimieren. "Luft wie im Hochgebirge", sagt Kiendl. Er steigt über eine Schiene, die in der Gasse zwischen den Hochregalwänden verläuft. Darauf ruht ein mannshoher, silberner Kasten mit einem senkrecht aufragenden Kranausleger - das Herzstück des Archivs, der Roboter, der in nur einer Minute jeden gewünschten Aktenband apportiert.

Wie es funktioniert, zeigen Mager und Kiendl im Erdgeschoss an der Theke der Zentralregistratur. Tagsüber kommen bis zu 80 Menschen her - Architekten, Bürger, Bauherrn. Sie alle bekommen gegen fünf Euro Gebühr die gewünschten Dokumente ausgehändigt, die dann kopiert werden dürfen. Ein Bildschirm zeigt, dass ein Mitarbeiter aus dem Haus den Akt Uhlandstraße 4 braucht. Kiendl geht an ein Terminal, scannt den Barcode auf einem Ausdruck und bestätigt mit einem Tastendruck. Unten, in den Eingeweiden des Hochregals, flitzt nun der Roboter die Schiene entlang und zieht einen Schuber mit drei blauen Kisten heraus. Dieser gleitet wenig später sanft auf einem Förderband hinter dem Terminal herbei.

Archiv der Lokalbaukommission: Cornelius Mager, der Chef der Behörde wacht über 320 000 dicke Akten.

Cornelius Mager, der Chef der Behörde wacht über 320 000 dicke Akten.

(Foto: Catherina Hess)

Mit dem Umzug von der alten Zentralregistratur wurde auch das alte Ordnungsprinzip aufgegeben: "Früher waren die Akten alphabetisch geordnet. Jetzt haben wir eine chaotische Registratur", sagt Kiendl. Chaotisch, das sei der korrekte Terminus, wiederholt er lächelnd. Er deutet auf den Bildschirm. Ein roter Balken markiert auf einer Simulation der befüllten Kiste, wo die Akte steckt: mittlere Box, fünftes Packerl von unten. Kiendl blättert - und zieht den Akt heraus. Dann greift er hinter sich wahllos einen der Dokumentenpacken, scannt den Barcode und stopft ihn in die Lücke. So geht Chaos mit System: Der Computer braucht nur Menschen, die der Aktenmappe per Barcode-Scan einen Platz zuzuweisen. So ist die Stadt in den Kisten wild durcheinander gewürfelt. "Das ist platzsparend und macht weniger Arbeit", sagt Kiendl. Bisher sei noch keine Akte verloren gegangen.

Allerdings: Die Arbeit in der Registratur wird durch den automatischen Aktenapportierer nicht weniger - im Gegenteil. Noch in diesem Jahr sollen fünf Mitarbeiter beginnen, zunächst die Neuanträge digital zu erfassen. Mager umfasst eine Dokumentenmappe, so dick wie vier Telefonbücher. Immer mehr Gutachten, Expertisen. Mager: "Der Aktenzuwachs soll mit der Digitalisierung gedämpft, aber nicht ersetzt werden." Die wichtigsten Dokumente werden auch weiter in die blauen Kisten wandern. So ist und bleibt dieses Archiv ein organisch wachsendes Gedächtnis der Stadt, ein Kulturschatz.

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