Architektur:Was die Dachstühle des Alten Hofs über die Geschichte Münchens erzählen

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Von Architekturhistorikern bewundert: der Dachstuhl des Alten Hofs. (Foto: Catherina Hess)

Entstanden ist das Gebälk im zwölften Jahrhundert, im Zweiten Weltkrieg blieb es verschont, und auch von Holzwürmern keine Spur. Doch Besucher dürfen nur selten hinein.

Von Wolfgang Görl

Gerne hätte man eine Zeitmaschine, einen Apparat, der einen in die Vergangenheit befördert, damit man sehen kann, was das für Menschen waren, die dieses beeindruckende Balkengebilde vor vielen Jahrhunderten errichtet haben.

Wie haben sie ausgesehen, was hatten sie an? In welcher Sprache redeten sie? Bayerisch? Italienisch? Sächsisch? Was aßen sie, was tranken sie, und was sangen sie für Lieder? Wie waren ihre Namen?

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Aber es gibt ja keine Zeitmaschine, deshalb muss das Bild dieser außerordentlichen Handwerker im Dunkeln bleiben. Geblieben ist allein das Resultat ihrer Arbeit, die Dachstühle des Alten Hofs. Da und dort haben sie an den Balken individuelle Spuren hinterlassen: Römische und arabische Ziffern, mit sicherer Hand ins Holz geschnitzt, um die Bauteile numerisch zu ordnen.

Es ist, als wären diese wenige Zentimeter großen Zahlen eine Botschaft von Menschen, die sich vor einer halben Ewigkeit zu einem Flug ins All verabschiedet haben - ein freundlicher, ein letzter Gruß aus den Tiefen der Vergangenheit.

Die Dachwerke blieben im Zweiten Weltkrieg verschont

Wer die komplexen Gerippe der vier historischen Dachstühle der ersten Münchner Burganlage besichtigen will, muss sich von Ludwig Popp den Zugang öffnen lassen. Popp ist der Kastellan des Alten Hofs, ein mit leiser Stimme und verwinkeltem Witz ausgestatteter Mann, der in jüngeren Jahren Musik studierte und nebenher genialisch verschachtelte Möbel baute, die mehr der Kunst als dem Handwerk verwandt sind.

Vor allem aber ist Popp der weltweit wohl größte Bewunderer des Dachstuhls, über dessen Vorzüge er so enthusiastisch spricht, dass man den Eindruck hat, im nächsten Leben wäre er am liebsten ein Holzwurm, der es sich in einem der Balken gemütlich machte.

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Andererseits: Von Holzwürmern ist hier nichts zu bemerken. Überhaupt haben die Jahrhunderte dem Gebälk wenig anhaben können, und wenn das schon wundersam ist, dann ist es noch wundersamer, dass dieses Architekturdenkmal, das aus gut brennbarem Material besteht, nicht den Bomben im Zweiten Weltkrieg zum Opfer gefallen ist. Die Altstadt lag am Ende des Kriegs weitgehend in Trümmern, auch Teile des Alten Hofs wie etwa den Lorenzistock in der Nordostecke hatte es erwischt - die mittelalterlichen und barocken Dachwerke aber blieben verschont.

Oben im Zwingerstock angekommen öffnet Popp die Tür, knipst das Licht an - et voilà: Ein Speicher wie für Riesen geschaffen, Dielenboden und schräg emporragende Balken, stabilisiert mit Stützen und Streben, ein verwirrendes Netzwerk aus exakt behauenem Holz, welches das großflächige Ziegeldach trägt.

Popp präsentiert das Werk der längst verblichenen Zimmerleute wie ein Zirkusdirektor, der seine beste Nummer ankündigt. Und während er mit einem Handscheinwerfer besonders raffinierte Beispiele alter Zimmermannskunst ausleuchtet, beantwortet er die naheliegende Frage, woher die Handwerker seinerzeit das Holz nahmen. "Das ist größtenteils Fichten- und Tannenholz aus dem Oberland. Auf Isar-Flößen hat man es dann nach München transportiert."

So alt diese Holzkonstruktionen auch sind, sie stammen keineswegs aus der Zeit, als die Baugeschichte der Münchner Burg ihren Anfang nahm. Ihre Ursprünge liegen archäologischen Ausgrabungen zufolge im zwölften Jahrhundert, in dessen Verlauf eine erste Burganlage in der Nordostecke des damals noch sehr kleinen Stadtkerns entsteht.

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Als die neue Herrscherdynastie der Wittelsbacher nach der Landesteilung 1255 München zur Residenz für die oberbayerischen Landesherren erwählt, gewinnt auch die Burg an überregionaler Bedeutung. Herzog Ludwig II. lässt das Kastell ausbauen, vermutlich wird in dieser Zeit auch eine Burgkirche errichtet. Seine Blütezeit erlebt der Alte Hof unter der Regentschaft von Herzog Ludwig IV., der 1314 römisch-deutscher König und 1328 Kaiser wird.

Unter anderem verfügt Ludwig, den Burgstock auszubauen und den Zwingerstock zu erweitern. In der ebenfalls veredelten Hofkirche St. Lorenz werden die Reichskleinodien, die Insignien der kaiserlichen Herrschaft, aufbewahrt.

Was für ein Glanz fällt in diesen Jahren auf München und seine Burg: Der Alte Hof ist kaiserliche Residenz, und die Stadt mausert sich für einige Jahre zu einem Zentrum europäischer Gelehrsamkeit. Um im Streit mit dem Papst ideologisch gewappnet zu sein, umgibt sich Kaiser Ludwig der Bayer mit bedeutenden Gelehrten wie Wilhelm von Ockham oder Marsilius von Padua.

Es versteht sich von selbst, dass auch die Burg kaiserliche Macht ausstrahlen soll. In seinem Buch über die baugeschichtliche Entwicklung des Alten Hofs schreibt der ehemalige Münchner Stadtheimatpfleger Enno Burmeister: "Der Alte Hof ist gegen Ende des 14. Jahrhunderts eine Bausubstanz, die den Burganlagen der Zeit entspricht: Steinhäuser, die aneinandergereiht und von einer Mauer umgeben sind, in der ein Torturm den Eingang schützt, als die typische Randhausbebauung. Vor den Mauern verlaufen Gräben." Innerhalb der Befestigungsanlagen, im Hof, stehen noch einige hölzerne Nebengebäude.

Das Gebäude wurde immer wieder umgebaut

Etwa zur selben Zeit, um 1385, beginnt Herzog Johann II. mit dem Bau der sogenannten Neuveste, womit der Grundstein für den weitläufigen Gebäudekomplex der Residenz gelegt ist. Dennoch lassen die Wittelsbacher ihre alte Burg nicht untergehen. Sie wird als eine Art Nebenresidenz genutzt, dient Mitgliedern des Herrscherhauses und erlauchten Gästen als Domizil und fungiert als Verwaltungssitz.

Da das Gemäuer mal diesen und mal jenen Zweck erfüllen muss, wird es permanent umgebaut. Um die Erhaltung der mittelalterlichen Architektur kümmert man sich dabei weniger, die bedeutende Hofkapelle beispielsweise wird 1816 kurzerhand abgerissen und an ihrer Stelle ein Haus für die "Generaldirektion der Zölle und indirekten Steuern" errichtet. Bis in unsere Tage ist die frühe kaiserliche Residenz ein Ort der permanenten Veränderung. Für Architekten und Bauarbeiter gibt es auf dem Alten Hof fast immer was zu tun.

Selbstverständlich finden sich die Spuren des permanenten Wandels auch auf den Dachböden, die Popp an einem kalten Vormittag vorführt. Der älteste entstand um das Jahr 1425. Der dreistöckige Dachstuhl trägt das Ziegeldach des nördlichen Zwingerstocks, des sogenannten Steinernen Hauses, das im Mittelalter mit einem schwarz-weißen Rautenmuster bemalt war.

Man kann den Bautermin deshalb so genau datieren, weil Wissenschaftler aus dem Holz zigarrenförmige Proben entnommen und anhand der Jahresringe den Zeitpunkt bestimmt haben, an dem die Bäume gefällt wurden. Dendrochronologie heißt das Verfahren. Was dabei herausgekommen ist, führt Popp zu dem Befund: "Dies hier ist der erste liegende Dachstuhl in Bayern." Bei einem liegenden Stuhl sind die Stützen schräg geneigt, die Lasten werden nach Außen abgeleitet.

So sah die Burg früher aus - ein Stich aus dem 18. Jahrhundert. (Foto: SZ-Photo)

Knapp 40 Jahre später, in der Regierungszeit des Herzogs Siegmund, versahen Zimmerleute den Burgstock, zu dem auch der Torturm gehört, mit einem neuen Dach. Dabei begnügten sie sich mit zwei Geschossebenen, vor allem aber zimmerten sie einen Zugang zum Dachgeschoss des Erkerturms, von dem man einen wunderbaren Blick auf den Innenhof hat.

Der mittelalterliche Erker ist unter dem Namen "Affenturm" populär, die einschlägige Legende wird bis heute gerne erzählt, mitunter auch als unverbrüchliche Wahrheit: Ein dressierter Affe, der am Hof frei herumlief, sprang eines Tages in die Wiege des späteren Kaisers Ludwig, schnappte sich den Säugling und kraxelte mit ihm auf dem Dach des Erkers herum. Das noble Baby fallen zu lassen, wagte der Affe dann doch nicht. Die Sache ging gut aus. Ob sie wahr ist? Sicher nicht.

Besonders eindrucksvoll ist der mittlere Dachstuhl des Zwingerstocks, der 1562 unter Herzog Albrecht V. gebaut wurde. Vermutlich befand sich darunter ein Ballsaal, den man nicht durch Stützbalken verschandeln wollte. Die Handwerker behalfen sich mit einer kühnen schmiedeeisernen Konstruktion, an der ein gewaltiger Balken hängt, der die gesamte Decke trägt. "Das war sehr ungewöhnlich", sagt Popp. "Eisen war damals ausgesprochen teuer."

Experten aus der ganzen Welt besuchen den Dachstuhl

Überhaupt gerät der Kastellan in diesem Abschnitt des Dachbodens ins Schwärmen. "Das ist der prächtigste Dachstuhl, er ist perfekt." Architekturhistoriker und Dachexperten aus aller Herren Länder kommen hierher, um die Konstruktion zu studieren. Auf den ersten Blick rätselhaft sind dabei die Umrisse eines zugemauerten Fensters an der Stirnseite des Raumes. Könnte man es öffnen, würde man lediglich in den benachbarten Dachboden schauen.

Was das soll? Popp kennt natürlich des Rätsels Lösung. Dieser Gebäudeteil des Zwingerstocks war ursprünglich niedriger. Als man ihn aufstockte, verwandelte sich die Außenmauer des Nachbargebäudes in eine Innenwand - samt Fenster und Bemalung, die noch fragmentarisch vorhanden ist. Vergleichsweise jung ist der Dachstuhl des südlichen Zwingerstocks. Er ist ein Werk barocker Handwerker, die das Holzgefüge um 1764 vollendeten.

Nach Stunden im Gebälk der Burg, die das noch junge München zu einem politischen Zentrum machte, ist es an der Zeit, Popp mit einer heiklen Frage zu konfrontieren: Gibt es hier, zwischen Brettern und Balken, auf knarzenden Treppen und hölzernen Spindeln, in finsteren Ecken und schief gemauerten Kaminen, in Ritzen, Fugen und Löchern, in denen einst Eisennägel steckten - gibt es hier Gespenster? Popp muss keine Sekunde überlegen. "Die gibt es bestimmt."

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Der Dachstuhl des Alten Hofs ist normalerweise geschlossen. Besichtigungen sind nur am Museumstag (22. Mai) und am Tag des offenen Denkmals (11. September) möglich.

© SZ vom 23.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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