Archäologische Entdeckungen:München hat keinen Platz für seine eigene Vergangenheit

Luftaufnahme von den archäologischen Ausgrabungen am Marienhof hinter dem Rathaus in München

Eine ergiebige Fundstätte für Archäologen ist der Marienhof hinter dem Rathaus, der früher dicht besiedelt war.

(Foto: Bayerisches Landesamt für Denkmalpflege, Luftbilddokumentation, Klaus Leidorf)

Fast 270 wissenschaftliche Grabungen gab es in der Münchner Altstadt bisher, die größte auf dem Marienhof, mit rund 45 000 Fundobjekten. Allerdings können die nicht in klassischen Museen gezeigt werden.

Von Martin Bernstein

Zuletzt waren es die Dinosaurier, bunt und aus Plastik die einen, skelettiert und versteinert die anderen. Im Schuhhaus Tretter am Marienhof machten sie Werbung für die Münchner Mineralientage. Dinosaurier sind kein Fall für Archäologen, das sei an dieser Stelle schon mal klargestellt. Doch vor den Echsen standen im Schaufenster des Traditionsgeschäfts - Schuhe. Nichts Besonderes? Doch. Denn die drei Schuhe, die das Schuhhaus da so prominent platziert hatte, sind ganz außergewöhnliche Lederwaren. Freilich nicht der dernier cri. Ganz schön alt sahen sie aus. Und das waren sie auch - genauer gesagt: die ältesten Schuhe Münchens. Archäologen haben sie zu Tage gefördert. Und Archäologen hatten die Idee, sie nur ein paar Meter vom Fundort entfernt ausstellen zu lassen.

"Archäologie München" heißt die Kooperation von neun Institutionen, die gemeinsam die verborgene Geschichte des mittelalterlichen München aufarbeiten wollen. Das Kulturreferat der Landeshauptstadt, die Archäologische Staatssammlung, das Bayerische Landesamt für Denkmalpflege und das Institut für Vor- und Frühgeschichte der Ludwig-Maximilians-Universität arbeiten mit dem Stadtmuseum, dem Stadtarchiv, der Staatssammlung für Anthropologie und Paläoanatomie, der Unteren Denkmalschutzbehörde der Landeshauptstadt sowie mit dem Regensburger Büro für Denkmalpflege des Stadtarchäologen Christian Behrer zusammen. Seit drei Jahren fördert die Stadt das Projekt mit 80 000 Euro pro Jahr - zunächst für fünf Jahre. Doch alle Beteiligten hoffen, dass die "großzügige Unterstützung" ihrer Kooperation auch nach 2019 weitergehen kann.

Auslöser für die ungewöhnliche Zusammenarbeit waren die Grabungen am Marienhof hinter dem Rathaus. Die Bahn beginnt dort in Kürze mit ihrem großen Graben für die zweite Stammstrecke. Doch bevor es in die Tiefe geht, mussten die Schienenbauer erst einmal Archäologen anrücken lassen, die das Areal untersuchten. Das war in den Jahren 2011 bis 2012. Und noch immer sind die Forscher nicht fertig mit dem Marienhof. Immer da, wo Bagger den Boden aufreißen, um die Großbaustelle vorzubereiten, sind die Archäologen der Bamberger Grabungsfirma Reve zur Stelle und schauen genau hin. Das Team war schon 2011 dabei, die Grabungs-Experten kennen den Marienhof genau.

Der war nämlich im Mittelalter und bis nach dem zweiten Weltkrieg keineswegs der leere, aufgeräumte Platz, als der er sich bis vor Kurzem präsentierte. Eng und verschachtelt bebaut war das Gebiet, durchzogen von Gässchen, Stadtbächen und der ältesten Stadtmauer Münchens. Eine Kapelle gab es dort, eine Synagoge, einen Wehrturm, Herbergen, Wohnhäuser. Und ganz viele Handwerksbetriebe.

Zum Beispiel den des Schuhmachers Jörg Roth. Um 1480 lebte und arbeitete der Handwerker in seinem Haus auf dem heutigen Marienhof. Was er nicht mehr brauchte, landete in der Latrine. Unter anderem ein Schnabelschuh, wie er damals Mode war. Mehr als 500 Jahre später wurde der Lederschuh geborgen, in den Werkstätten der Archäologischen Staatssammlung restauriert - und dann ausgestellt, fast exakt an der Stelle, an der er einst entstanden war. Im Schaufenster eines Schuhhauses. So wünscht sich das Projekt-Koordinatorin Elke Bujok. Und Brigitte Haas-Gebhard, die wissenschaftliche Leiterin, sagt: "Beim Tretter hat es wunderbar gepasst."

Wenn es nach den Archäologen geht, dürfen sich gerne noch mehr Geschäftsleute aus der Innenstadt melden, die Relikte aus der Münchner Vergangenheit, wissenschaftlich aufbereitet, in ihre Schaufenster stellen wollen. Haas-Gebhard verspricht: "Wir bleiben am Ball." Die Bahn macht in ihrem großen Infopavillon mit, die Münchner Verkehrsgesellschaft ebenfalls - sie zeigt unterm Marienplatz derzeit einen mittelalterlichen Fischkasten. Für Haas-Gebhard ist es wichtig, die Erkenntnisse der Forscher "nicht hinter verstaubten Museumsmauern" zu präsentieren. Deshalb hatten am Sonntag die Restaurierungsateliers der Archäologischen Staatssammlung in der Oettingenstraße ihre Türen geöffnet. Die Besucher konnten dort beispielsweise den Lederresten aus Jörg Roths Werkstatt ganz nahe kommen.

"Sie zeigen uns, was Schriftquellen nicht aussagen"

Fast 270 wissenschaftliche Grabungen gab es in der Münchner Altstadt bisher, die größte auf dem Marienhof, mit rund 45 000 Fundobjekten. Jede Menge Arbeit für Archäologen, aber auch Botaniker, Zoologen, Anthropologen und Historiker. Zugleich aber wurde Kritik laut. Denn in München gab es keinen Ort, an dem die Funde nach ihrer Restaurierung und Auswertung auch gezeigt werden konnten. Ins Konzept des Stadtmuseums passten sie nicht, die Archäologische Staatssammlung an der Lerchenfeldstraße wiederum sollte sich ganz Bayern widmen, nicht nur der Stadt München. Und war außerdem selbst ein eklatanter Sanierungsfall. Wissenschaft unter Ausschluss der Öffentlichkeit?

Doch die Arbeitsgemeinschaft "Archäologie München" machte aus der Not eine Tugend. Wenn es kein geeignetes Museum in der Stadt gab, dann musste eben die Stadt zum Museum gemacht werden. In der Residenz wurde vor einem Jahr "die älteste Münchnerin" präsentiert, eine Frauenbestattung aus der Bronzezeit. Beim Bürgerfest zum Bau der zweiten Stammstrecke im April zeigten die Forscher einen Teil ihrer Funde vom Marienhof. In größerem Rahmen sollen sie von Ende November an im Stadtmuseum gezeigt werden, begleitet von einer Vortragsreihe, die am 28. November um 19.30 Uhr von Christian Behrer eröffnet wird.

Mit solchen Präsentationen an unterschiedlichen Orten der Stadt wollen die Archäologen die Zeit überbrücken, bis die Staatssammlung saniert ist und dort die neue Abteilung zur Münchner Stadtarchäologie eröffnet werden kann. 2020 soll es so weit sein, zumindest ist das der Plan. Der andere Plan, nämlich archäologische Forschung in den Münchner Alltag zu bringen, geht jedenfalls auf.

"Der Zuspruch ist groß", sagt Elke Bujok. Vielleicht, weil die Münchner in der Altstadt an unerwarteten Stellen über Gegenstände "stolpern", die etwas über den Alltag ihrer Vorfahren erzählen: ein abgewetzter Schuh, ein Topf mit angebranntem Obstmus, ein Teil einer Armbrust, ein Erlenholzkasten, in dem lebende Speisefische aufbewahrt wurden. Auch die Archäologen sind begeistert von den immer neuen Einblicken, die ihnen die Funde ins Alltagsleben vor 600 und mehr Jahren gewähren. "Sie zeigen uns, was Schriftquellen nicht aussagen", erläutert Brigitte Haas-Gebhard.

Offenbar hielten die alten Münchner in ihren Hinterhöfen auch Nutztiere - in einem Latrinenschacht wurde ein komplettes Kuhskelett gefunden. Bei Ausgrabungen in der Weinstraße 6 kamen Reisemitbringsel wie ein Würfel aus Bergkristall zu Tage. In der Taverne von Ludwig und Wolfgang Wenig nächtigten damals offenbar besser gestellte Reisende, ein Fünf-Sterne-Hotel des Spätmittelalters

"Einzigartig in Bayern" findet Stadtarchäologe Behrer die Zusammenarbeit. Brigitte Haas-Gebhard kann ihm da nur beipflichten. Beide hoffen, dass die Erforschung der mittelalterlichen Geschichte Münchens auch in Zukunft finanziell gefördert wird. "Wir würden gerne den zweiten Schritt machen", sagt Haas-Gebhard. Zwei Lkw-Ladungen an Funden zu reinigen, zu restaurieren, zu dokumentieren und wissenschaftlich zu bearbeiten - das dauert eben. Vier Dissertationen sind derzeit in Arbeit. Ein virtuelles Portal zur Stadtarchäologie soll demnächst online gehen. Und die nächsten Funde sind nur noch eine Frage der Zeit. Von Mai an wird die Parzelle Dienerstraße 11 untersucht, Standort des ehemaligen Hotels Englischer Hof. Die Forscher sind gespannt. Denn, so Behrer: "Je mehr wir herausfinden, desto mehr neue Fragen ans alte München haben wir."

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