Arbeiterstrich in München:"Scheißegal, ich mache alles"

Männer warten im Münchner Bahnhofsviertel auf Arbeit

Jeden Tag hoffen die Männer an einer Kreuzung im Münchner Bahnhofsviertel auf Arbeit, sie warten oft stundenlang vergeblich.

Arbeiterstrich - so heißt eine Straßenecke mitten in München, an der Billig-Tagelöhner aus Südosteuropa auf einen Job für ein paar Euro warten. Sie sind moderne Arbeitssklaven, frei verfügbar, zu riskanten Tätigkeiten bereit. Und werden oft um ihr Geld betrogen.

Alexandra Reinsberg - ausgezeichnet mit dem jj-Reportagepreis

Mit dieser Reportage über Bulgarische Tagelöhner in München hat Alexandra Reinsberg den zweiten Platz beim jj-Reportagepreis 2012 belegt, den Süddeutsche.de mit dem Netzwerk Jungejournalisten.de und der Böll-Stiftung ausgelobt hat. Mehr zu Autorin und Preis erfahren Sie am Ende des Textes.

Männer warten im Münchner Bahnhofsviertel auf Arbeit

Jeden Tag hoffen die Männer an einer Kreuzung im Münchner Bahnhofsviertel auf Arbeit, sie warten oft stundenlang vergeblich.

Alles, was Ilja* anbieten kann, ist die Kraft seines Körpers. Seine Arme zum Heben, seinen Rücken zum Schleppen, seine Hände zum Spülen. "Scheißegal, was für ein Job, ich mache alles."

Seit vier Tagen treibt sich der 24-jährige Bulgare an einer Kreuzung im Münchner Bahnhofsviertel herum, Landwehr-/Goethestraße. Um sechs Uhr morgens ist die Ecke der einzige belebte Ort in der Gegend; Arbeiterstrich nennen sie die einen, Tagelöhnermarkt die anderen. Der Asphalt nass vom Regen der Nacht, die ersten Sonnenstrahlen lassen die Straße glänzen. Der Besitzer einer Dönerbude fährt die Markise aus.

Auf Stühlen sitzen verschlafene Männer und trinken Kaffee, Ilja steht daneben. Sein braunes Haar ist geschoren, die Haut von der Sonne gegerbt. Neben ihm fünf weitere Männer, auf der anderen Straßenseite noch drei. Einige tragen rote T-Shirts, ein Geschenk der Gewerkschaft Verdi. "Gute Leute, gute Arbeit, gutes Geld", steht auf dem Rücken. Sie sitzen, lehnen, hocken, Positionen, in denen es sich lange aushalten lässt. Tag für Tag warten sie hier, hoffen darauf, dass sie ein wenig Geld verdienen können.

Wieder hat Ilja eine schlaflose Nacht im Park hinter sich, sein mitgebrachtes Geld ist aufgebraucht. Vor vier Tagen ist er in München angekommen; wie fast alle hier stammt er aus der Gegend um Pasardschik, einer 78.000-Einwohner-Stadt in Zentralbulgarien. Er gehört dort zur diskriminierten Minderheit der Türkischstämmigen. Bei ihnen hat sich der Tagelöhnermarkt im fernen Deutschland herumgesprochen.

Jede deutsche Großstadt hat ihren Arbeiterstrich

Dieser Markt hat seine eigene Dynamik entwickelt, er floriert, in jeder deutschen Großstadt. Seit mindestens fünf Jahren muss es ihn in München schon geben, sagen die Polizei und die Initiative für Zivilcourage. Mal stehen fünf Männer an der Straßenecke, mal zwanzig, jeden Tag in anderer Konstellation. In der reichen bayerischen Landeshauptstadt gebe es in der Regel zehn Euro pro Stunde, sagt Ilja, in Köln, wo er mal auf dem Bau gearbeitet hat, nur sieben, deshalb ist er zurück in München.

Alle paar Minuten trudeln Bulgaren an der Ecke ein, murmeln "Merhaba", Hallo auf Türkisch. 20 sind es inzwischen. Manche sind in der Nacht bei Freunden untergekommen, andere haben sich zu acht in ein Zimmer im Wohnheim gequetscht, viele schlafen wie Ilja auf der Straße. Fast jeder hat jetzt eine Tasche bei sich, mit seinem Besitz, oft nicht mehr als eine Wechselhose und Shirts. In der Regel reicht ein kurzer Zuruf, ein Handyklingeln, und die Sache ist ausgemacht. Verpacken, verladen, auf dem Bau schuften - Hauptsache, ein Job.

"Es ist ein Überlebenskampf"

"Es ist ein Überlebenskampf", sagt Michaela Ostermeier von Verdi. "Diese Menschen brauchen das Geld so dringend, dass die Arbeitsbedingungen in den Hintergrund treten." Überstunden, Doppelschichten, ohne Pause oder Schutzkleidung, ohne gültigen Vertrag oder Absicherung - wer danach fragt, dem antwortet einer der Männer: "Arbeit mit Geld: gut. Arbeit ohne Geld: schlecht."

Wer erfahren will, wie die Kette von den Tagelöhnern zu jenen Unternehmen funktioniert, die vom Arbeiterstrich profitieren, stößt auf Ratlosigkeit. Anwälte, die Initiative für Zivilcourage, die Polizei, die Gewerkschaften, niemand weiß mehr als: Irgendwelche Subunternehmer von Subunternehmern heuern die Männer an, oft sitzen sie im Ausland, die Spuren verwischen.

Erst wenn ein Unfall passiert, gibt es Probleme

Viele Tagelöhner arbeiten selbständig als EU-Bürger mit Gewerbeschein, wodurch die Auftraggeber die deutschen Mindestlöhne und Arbeitsgesetze auszuhebeln versuchen. Wegen angeblicher Mängel wird die Bezahlung dann allerdings oft noch mal gesenkt oder gar nicht gezahlt - Verträge gibt es ja nicht, oder die Bulgaren unterschreiben welche, die sie nicht lesen können. Manchmal verzichten sie darin auf Teile ihrer Bezahlung, manchmal sind die Papiere schlicht ungültig. Vielen wird suggeriert, sie seien ordnungsgemäß angemeldet. Erst wenn ein Unfall passiert oder der Zoll als zuständige Behörde kontrolliert, gibt es Probleme.

Sieben Uhr, noch hat sich kein Auftraggeber blicken lassen. Eine Kehrmaschine spritzt die Bürgersteige sauber und die Männer nass, die Bulgaren springen zur Seite. Der Boden, auf dem sie stehen, ist jetzt sauberer als sie selbst.

Waschen und essen können die Männer in der Obdachlosenhilfe Haneberghaus am Königsplatz; Ilja schlurft jetzt dorthin, vorbei an schicken Shops und Hotels. Im Aufenthaltsraum nimmt er sich eine Tasse Tee mit drei gehäuften Esslöffeln Zucker. Als er seine Jacke auszieht, kommen Tattoos zum Vorschein. Er hat sie selbst gestochen, mit einer Maschine aus einer Gitarrensaite und einem Motor. Was auf seinen Armen und dem Hals steht? Ilja ist Analphabet. "Irgendwas Versautes", sagt er und grinst.

Auftraggeber stehlen sich aus der Verantwortung

Hussein* geht nicht zur Obdachlosenhilfe, er schmuggelt sich zum Duschen in ein Wohnheim. Der 49-Jährige steht heute erst gegen halb zehn an der Ecke, er trägt ein weißes Leinenhemd, das grau melierte Haar ist frisch geschnitten. Er scherzt. "Wir müssen auf den Straßen Europas gut aussehen."

Ein befreundeter Türke steckt ihm täglich Geld zu, denn der gelernte Maurer wartet noch auf seine Bezahlung. 1680 Euro für zehn Tage auf einer Baustelle, nicht wenig, aber das Geld kriegt er eben nicht. Hätte Hussein Geld für einen Anwalt und würde er klagen, dann hätte er zwar gute Chancen, recht zu bekommen - nicht aber sein Geld. Am Ende haben die Auftraggeber erprobte Methoden, sich herauszustehlen. Sie tauchen unter oder melden Insolvenz an. Juristen argumentieren, diese Praxis könne nur unterbunden werden, wenn die großen Unternehmen, die zum Beispiel ein Bauprojekt organisieren, für ihre Subunternehmer verantwortlich gemacht werden könnten. Das aber können sie nicht, und so wird das undurchsichtige Geschäft weitergehen.

Ohne Geld von der Straße gejagt

Die Tagelöhner zerstreuen sich an ihrer Ecke immer, sobald Polizisten auftauchen. Und diese kommen öfters vorbei, "alle funf Minute", sagt Hussein, so häufig erscheint es ihm; es ist einer der wenigen Sätze, die er auf Deutsch kann. Und weiter auf Türkisch: Einen Kollegen hätten Kontrolleure auf offener Straße bis auf die Unterwäsche gefilzt. Ein anderer klagt, Polizisten hätten ihm den Ausweis zerschnitten. "So lassen sie mich doch nie mehr nach Hause", sagt er und wedelt mit seiner zerstörten Identität. Die Polizei bestreitet die Vorwürfe - Razzien gebe es nur in gröbsten Ausnahmefällen, zum Beispiel bei Verdacht auf Drogenhandel.

Am Arbeiterstrich hat inzwischen ein Bagger die Straße aufgerissen. Die Tagelöhner versuchen, den Staub nicht abzubekommen. In ihren Gesichtern spiegelt sich Resignation, kein Auftraggeber in Sicht. Der Besitzer des Döner-Ladens verscheucht vier Männer, die sich zu lange bei ihm ausgeruht haben. "Im Endeffekt sitzen sie stundenlang auf meinen Stühlen und behindern mein Geschäft", sagt er. Einer der Männer ruft: "Was ist das für ein Land, in dem du arbeitest, kein Geld kriegst und dann von der Straße gejagt wirst?"

Vier Tage später. Wieder an der Ecke Landwehr-/Goethestraße, diesmal früher Abend. Sechs Bulgaren haben sich in den Schatten verzogen. Manche trinken ein Bier, es sieht aus wie Feierabend, aber sie haben keinen. Es war wenig los seit der letzten Begegnung. Viel Warten, kaum Jobs.

"40 Prozent sind schwarze Schafe"

Als Mustafa* in einer grauen Arbeitshose und einem dreckigen T-Shirt vorbeikommt, erwachen die Männer aus ihrer Lethargie. Er ist der erste potenzielle Auftraggeber heute; für sein Abrissunternehmen braucht er immer wieder ein paar Tagelöhner. "Aber nur mit Gewerbe. Ich will keine Probleme."

Mustafa ist vor 37 Jahren aus der Türkei nach Deutschland gekommen. Er kennt andere Auftraggeber aus dem Viertel, er sagt: "40 Prozent sind schwarze Schafe. Wenn sie die Leute nicht zahlen, kann ich zwar mit ihnen reden. Aber sich mit ihnen zu schlagen, bringt nichts." Auch Mustafa hat heute keine Arbeit.

Es wird dunkel. Der Arbeiterstrich löst sich auf. Die Männer schultern ihre Rucksäcke, greifen ihre Tüten und suchen einen Platz für die Nacht. Bis zum nächsten Morgen an der Ecke.

*Alle Namen geändert

Zur Autorin
Alexandra Reinsberg

Alexandra Reinsberg, Jahrgang 1987, hat Medien und Kommunikationswissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und in Augsburg studiert. Seit 2011 absolviert sie den Masterstudiengang Journalismus an der Ludwig-Maximilians-Universität München und der Deutschen Journalistenschule.

Für ihre Recherche im Münchner Bahnhofsviertel war Alexandra auf die Hilfe ihres türkisch sprechenden Mitschülers Hakan Tanriverdi angewiesen. Zusammen mit den bulgarischen Arbeitern warteten sie an mehreren Tagen auf Arbeit. Ein wichtiger Ansprechpartner für die Bulgaren sind die Mitarbeiter der Initiative für Zivilcourage. Sie helfen bei Behördengängen, vermitteln Anwälte und machen mit Demonstrationen und Gesprächsabenden auf die Situation von Migranten in München aufmerksam.

Die Begründung der Jury für den zweiten Platz beim jj-Reportagepreis 2012: Alexandra Reinsberg versteht es, ihre Funktion als Reporterin gekonnt einzunehmen. Sie wertet nicht, sondern beobachtet und beschreibt. Besonders überzeugend ist dabei die von ihr bewiesene sprachliche Nüchternheit. Bis in viele Details enthält ihre Reportage treffende Schilderungen und punktet immer wieder mit Pointen. Reinsberg spricht aber nicht über die Bulgaren, sondern mit ihnen. Vorsichtig, einfühlsam und dann doch zupackend - so hat sie sich ihren Protagonisten, diesen Antihelden in einer saturierten Umwelt des reichen München, genähert. Alexandra Reinsberg zeigt uns ein anderes Bild von der bayerischen Landeshauptstadt als das Schickimicki-München, das jeder kennt oder zu kennen meint. Dabei weicht Reinsberg nie ins Moralinsaure aus und erlaubt das auch nicht ihren Lesern. Sie rechnet vor, wie wenig die Bulgaren verdienen und dass sie ausgenutzt werden von vielen Subunternehmern und Möchtegern-Unternehmern, von denen die allermeisten wohl ebenfalls Habenichtse sind. Die Autorin zeigt uns Armut und Ausbeutung als einen Teufelskreis der Abnutzung und Vernutzung menschlichen Lebens.

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