Appelle und Anekdoten:Erinnerungen zweier Meisterbürger

Hans-Jochen Vogel und Christian Ude haben in ihrer Zeit als Oberbürgermeister München geprägt wie wenige andere. Im Gespräch über ihre politischen Anfänge geht es erstaunlich oft um die Gegenwart. Ihre Forderung: "Jeder Einzelne ist mitverantwortlich für die Demokratie."

Von Lea Frehse

In dem Moment, da der Altehrwürdige die Vergangenheit ins Hier und Jetzt bringt, ist auf einen Schlag aufregende Stille im Publikum. "Ihr seid nicht bloß Zuschauer!", ruft der Herr mit weißem Haar dem Saal entgegen. "Jeder Einzelne muss sich einbringen, jeder Einzelne ist mitverantwortlich für die Demokratie!"

Eigentlich sollte es in dieser Diskussion um das Gestern gehen. Die beiden ehemaligen Münchner Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel und Christian Ude waren am Dienstagabend an der Münchner Volkshochschule (VHS) zu Gast. Thema des Gesprächs: "Anfänge". Doch wo Persönlichkeiten sprechen, die ihr Tun stets an der Zukunft ausgerichtet haben, kommt die Rede unweigerlich auch auf die Gegenwart. Und den weißhaarigen Vogel wie auch Ude darf man wohl Visionäre ihrer Stadt nennen.

Die VHS begeht die Eröffnung ihrer neuen Räumlichkeiten an der Einsteinstraße mit einer Reihe von Veranstaltungen und diese, moderiert von VHS-Programmdirektorin Susanne May, zählt als Höhepunkt. Der große Vortragssaal mit rund 120 Plätzen ist voll besetzt, im Publikum dominieren graues Haar und Pullunder. Eine ältere Dame mit knallrotem Lippenstift bittet Vogel um ein Selfie. Es sind Gäste, die den Weg der beiden Sozialdemokraten über Jahrzehnte verfolgt haben. Deren Rückschau führt in erstaunliche Zeiten, in denen man nicht nur mit 34 Jahren Oberbürgermeister einer konservativen Stadt werden konnte - sondern sich auch noch persönlich besuchte, statt über den politischen Gegner via Twitter zu frotzeln.

Christian Ude, 1988 | Christian Ude, 1988

Wichtig ist Altoberbürgermeister Christian Ude, immer wieder bereit zu sein, Neuanfänge zu wagen.

(Foto: Regina Schmeken)

Dass die beiden Herren auf dem Podium nicht immer Freunde, aber stets voll Achtung füreinander waren, erzählt die Begebenheit eines denkwürdigen Feiertagsbesuchs. Aber dazu später.

Die Geschichte, wie aus dem gebürtigen Niedersachsen Hans-Jochen Vogel eine Münchner Berühmtheit wurde, beginnt in Vogels Erinnerung mit einem Ausruf: "Ihr seid's doch woansinnig!", habe er seinen Parteikollegen in gebrochenem Bairisch entgegnet, als die ihn 1959 mit nur 33 Jahren zum Kandidaten für das Amt des Oberbürgermeisters machen wollten. Er trat dann doch an - und gewann. Als erste Amtshandlung, daran erinnert Moderatorin May, reduzierte Vogel sein eigenes Gehalt als Oberbürgermeister. "Das, was mein Vorgänger nach elf Jahren im Amt bekam, konnte ich als 40 Jahre Jüngerer nicht nehmen", sagt Vogel dazu nur. Wenn er aber, wie jetzt, an diese Episode erinnert werde, denke er schon mal an heutige DAX-Vorstände. "Was machen die eigentlich mit dem ganzen Geld, das die verdienen?", fragt Vogel ins Publikum. "Man guckt doch nicht mit gutem Gewissen in den Spiegel."

Was Vogel in seinen zwei Amtszeiten zwischen 1960 und 1972 schließlich an Projekten anstieß, das bleibt im Münchner Alltag präsent: Vogel sorgte nicht nur für den Bau der Münchner U- und S-Bahn, sondern auch für große Wohnbauprojekte wie etwa im Hasenbergl. Und obwohl er bei Amtsantritt jung und unerfahren war, sei der Anfang doch unbeschwert gewesen. "Ich habe in meinem Leben große Schwierigkeiten gehabt, aber die kamen später", sagt Vogel. Tatsächlich verzichtete er 1972 freiwillig darauf, noch einmal als Oberbürgermeister zu kandidieren: Die Parteibasis - zu der auch der junge Ude zählte - war ihm Ende der Sechzigerjahre zu links geworden. Nach 4444 Tagen als Oberbürgermeister folgte Vogel dem Ruf Willy Brandts in die Bundespolitik, wurde Minister, Kanzlerkandidat, Parteivorsitzender der SPD. Wenn Vogel, der kürzlich 91 wurde, erzählt, nennt er jede Jahreszahl ohne Zögern. Seit 66 Jahren sei er stolzes SPD-Mitglied, sagt Vogel, "und in den vergangenen Wochen ist meine Freude darüber immer größer geworden!" Den Namen Martin Schulz muss er nicht nennen.

Appelle und Anekdoten: Ihre eigenen Anfänge, das vermitteln Christian Ude (links) und Hans-Jochen Vogel an diesem Abend, interessieren sie im Rückblick weniger.

Ihre eigenen Anfänge, das vermitteln Christian Ude (links) und Hans-Jochen Vogel an diesem Abend, interessieren sie im Rückblick weniger.

(Foto: Stephan Rumpf)

Hat Vogel mit seinen Großprojekten das Gesicht Münchens verändert, dann war Ude das Gesicht der Stadt nach außen. Wer Ude, 69, auf dem Podium sieht, der erlebt einen, der wenig an sich zu zweifeln hatte. "Das Amt des Oberbürgermeisters war für mich in keiner Weise überraschend", sagt Ude. Dass er einmal das Rathaus führen wolle, habe er schon mit zehn Jahren gewusst. Dass aber hinter solchen Sätzen Udes nicht nur ein großes Selbstbewusstsein steht, sondern auch harte Arbeit und kluge Taktik, zeigt eine der erstaunlichsten Anekdoten des Abends: Udes Vorgänger Georg Kronawitter, den hier alle nur Schorsch nennen, habe schon 1988 den Tag genannt, an dem er 1993 Ude das Amt zu übertragen gedenke. "Das habe ich so noch nie erzählt", meint Ude - und hat sichtlich Spaß an der Enthüllung.

Weil er sich als Kronawitters Stellvertreter lange habe vorbereiten können, seien auch seine Anfänge als Oberbürgermeister sanft gewesen, meint Ude: "Alle Peinlichkeiten habe ich als Kronawitters Stellvertreter hinter mich gebracht." Ude blieb München denn auch immer treu: Nach einem kurzen, gescheiterten Ausflug in die Landespolitik, blieb er Oberbürgermeister bis 2014 - länger als jedes andere Münchner Stadtoberhaupt.

Wie sie so auf dem Podium sitzen, zwei Ehrenbürger der Stadt München, umgibt sie eine Aura großer Popularität. Dabei hat diese Stadt sie beide auch schon abgestraft. Bei dem Jüngeren sind die Spuren davon noch frischer: Als Vogel in den Saal kommt, empfängt ihn spontan lauter Applaus. Bei Ude, der aus dem Stau verspätet herbeihetzt, klatschen die Zuhörer verhaltener. Und bekommen dafür einen von Udes typisch-unernsten Kommentaren: "bloß kein ironischer Applaus."

Hans-Jochen Vogel

Auch Altoberbürgermeister Hans-Jochen Vogel betont im Rückblick die Kraft des Neuanfangs.

(Foto: Otfried Schmidt)

Vogel lebt heute in einer Seniorenresidenz, Ude ist in mehreren Initiativen aktiv, sitzt unter anderem der Beratungsstelle gegen Rassismus vor. Ihre eigenen Anfänge, das vermitteln beide, interessiert sie weniger im Rückblick, als immer wieder bereit zu sein, Neuanfänge zu wagen. Wer das Bestehende nicht einbeziehe und alles immer ganz neu machen wolle, "bringt Missachtung für das Vergangene zum Ausdruck", sagt Ude. "Wer aber seine eigene Haltung nicht regelmäßig aus den Prüfstand stellt, der wird zu einer Karikatur." Die Balance zwischen Kontinuität und Neuanfang sei "ein lebenslanges Austarieren". Und so stehen denn auch weder Vogel noch Ude für radikale Brüche. Was nicht heißt, dass nicht beide mit Leidenschaft hinterfragen.

Vogel, der als Jugendlicher in der Hitlerjugend aktiv war, erinnert sich: "Der Gedanke, dass man gegen den eigenen Staat aktiv werden muss, dazu in Kriegszeiten, lag außerhalb meiner Vorstellungskraft." Umso größer sei sein Respekt vor den Geschwistern Scholl, die das System von innen heraus anzuzweifeln begannen. Sein politisches Engagement für die Sozialdemokratie begann erst, als das Regime der Nazis schon Geschichte war. Vogels Karriere steht auch für Wiederaufbau und Wirtschaftswunder, Jahre des Fleißes und des Booms. "Die heute so geschmähte Politik hat dafür viel erreicht", sagt Vogel. Und wenn er manchmal den Eindruck gewinne, dass Jüngere Errungenschaften wie Frieden und Wohlstand als Selbstverständlichkeit sähen, dann sehe er sich in der Pflicht zum Appell. Es ist der Moment, in dem er das Wort erhebt und der Saal ganz still wird.

Und dann ist da noch diese Geschichte der beiden, Parteifreunde und Parteifeinde zugleich. "Darf ich Christi Himmelfahrt erwähnen?", fragt Vogel, Ude nickt. An jenem Feiertag 1969 besuchte der Parteilinke Ude den konservativeren Vogel. "In klaren, höflichen Worten legte Christian mir dar, dass er fortan innerhalb der Partei andere Positionen vertreten würde als ich", erzählt Vogel. "Äußerst anständig" sei das gewesen, wenn auch politisch unvorteilhaft. Leidenschaft für die Auseinandersetzung teilen sie, die Genossen von der Isar.

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