Angekommen?:Die Alternative

Die Straßenbahnlinie 19 ist während des S-Bahnstreiks die einzige durchgehende Ost-West-Verbindung. Während es morgens fröhlich am Autostau vorbeigeht, brechen abends im überfüllten Abteil fast Prügeleien aus

Von Stephan Handel

Es dauert gerade mal vier Haltestellen, dann müssen Entscheidungen getroffen werden: stehenbleiben. Oder neben Fremden sitzen. Pünktlich ist die Tram der Linie 19 losgefahren um 8.26 Uhr am Pasinger Bahnhof, da war sie gut, aber nicht brechend gefüllt. Aber Rathaus Pasing, Offenbachstraße, Am Knie, jetzt Westbad: wer einsteigt, sieht großteils Einzelpersonen auf den Zweier-Bänken sitzen. Und deshalb bleiben viele der neuen Fahrgäste lieber gleich stehen, bevor sie sich der Gefahr aussetzen, am frühen Morgen schon in zu engen Kontakt mit Unbekannten treten zu müssen, mit ihren Jacken oder, schlimmer noch, mit ihrem Geruch.

Angekommen?: Es ist eng zur Zeit in den Straßenbahnen der Linie 19.

Es ist eng zur Zeit in den Straßenbahnen der Linie 19.

(Foto: Michael König)

Die Straßenbahnlinie 19 ist die längste, die die MVG anzubieten hat, sie fährt vom Pasinger Bahnhof in die St.-Veit-Straße, Berg am Laim, fast schon Trudering. Sie ist aber auch die einzige durchgehende Ost-West-Verbindung, wenn die S-Bahn nicht fährt. Und die fährt ja momentan aus bekannten Gründen nur sehr eingeschränkt. Somit wird die Tram zur attraktiven Alternative für alle, die in die Innenstadt oder noch weiter müssen, wollen sie denn nicht die U5 nehmen, die vom Laimer Platz abfährt. Aber da bräuchte man zuerst noch den Bus, und dann müsste man eventuell am Ostbahnhof noch mal umsteigen . . . Also: Rein in die Straßenbahn und in einem Rutsch durchgefahren, dabei noch das in Anspruch nehmend, was die Linie laut MVG zur "Sightseeing-Tram" macht: Dass sie nämlich durch die Innenstadt fährt und dabei an zahlreichen Gebäuden vorbeifährt, die der Tourist als sehenswert einstuft, was vielleicht für den Münchner auf dem Weg zur Arbeit nicht ganz so zutrifft.

Protest der Lokführer

Zwei Studenten der Politikwissenschaft auf einer Streikkundgebung der Lokführer? "Wir wollen uns solidarisch zeigen", sagen Marius und Baran und halten ein Schild der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW): "Streikrecht verteidigen", steht darauf. Genau darum geht es auch den etwa 250 Lokführern, die die Gewerkschaft GDL am Dienstagmittag auf dem Platz vor dem Luisengymnasium versammelt hat. Der Vorstand der Deutschen Bahn habe die Rechte seiner Mitglieder "mit Füßen getreten", ruft GDL-Vize-Chef Norbert Quitter ihnen zu. Vier Millionen Überstunden würden allein die Lokführer und Zugbegleiter vor sich herschieben, die Belastung sei immens. "Damit muss endlich Schluss sein", sagt Quitter. Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) bezeichnet er als "schwarze Null", weil dieser den Bahnvorstand aufgefordert hatte, den Streik vor Gericht zu stoppen. Doch damit scheiterte der Konzern. "Wir stehen auf dem Boden des Grundgesetzes", sagt Quitter. Und um einen "Machtkampf" gehe es auch nicht, sondern "um unsere Interessen und unsere Forderungen". Diverse Seitenhiebe auf die rivalisierende Bahn-Gewerkschaft, die EVG, kann sich aber kaum ein Redner verkneifen: Quitter etwa nennt sie eine "handzahme Hausgewerkschaft". mvö

Der Münchner - oder die Münchnerin - auf dem Weg zur Arbeit tut an diesem Morgen das, was er in der S-Bahn auch tun würde: Er vertieft sich ins Handy oder in ein Buch, "Strategien, die Ihr Leben verändern" zum Beispiel. Aber ob es 1.) Strategie genannt werden kann und 2.) das Leben verändern wird, wenn man mal statt der S-Bahn die Tram nimmt, das ist noch nicht raus.

Auf jeden Fall ermöglicht es einen umfassenderen Blick auf die Welt, als ihn die recht triste Gleistrasse anbietet. Und vielleicht hebt es ja die Stimmung, dass spätestens nach der Haltestelle Lautensackstraße, wo die Tram in die Landsberger Straße einbiegt, die Welt stehen geblieben ist: Es ist Stau, und die Monaden in ihren Blechkisten schauen grantig dem Vordermann in den Auspuff, während der blaue Zug zügig zwischen ihnen durchrauscht. Die Autos stehen bis kurz vorm Hauptbahnhof, und auch wenn jetzt - kurz vor 9 Uhr - die S-Bahn gerade in Berg am Laim einfahren würde, wenn sie denn führe, so ist es doch ein triumphierendes Gefühl, den Individualverkehr hinter sich zu lassen.

Gut gefüllt ist die Tram mittlerweile, was kein Wunder ist, bedenkt man, dass sie 221 Fahrgäste fasst, während eine S-Bahn gut 1000 Leute auf einmal befördert. Der Blick nach draußen bleibt trotzdem frei: So also sieht die Oper am Morgen aus, so die Maximilianstraße, das Maximilianeum macht den Eindruck, als sei noch kein Volksvertreter dort vertreten.

Hinter dem Johannisplatz ist die Straßenbahn fast leer, dafür sind nun die Haltestellen in der Gegenrichtung gut besetzt. Am Ostbahnhof steigt noch mal ein größerer Schwung zu und beschwert sich über die Verspätung - die sich aber schließlich, an der Endhaltestelle, in Grenzen hält: 61 Minuten statt den im Fahrplan vorgegebenen 53, bei einer Gesamtlänge von ziemlich genau 18 Kilometern. Ein paar Stunden später, am frühen Nachmittag zurück nach Pasing, schaut's schon ganz anders aus: Da sammelt die Tram so gut wie alle ein, die nach Westen wollen, und die Frage nach Sitzen oder Stehen, Körperkontakt oder des Nachbarn Körperausdünstungen stellt sich nicht mehr. Man kann froh sein, wenn in der vollgepfropften Bahn keine Schlägerei ausbricht. Am Morgen aber ist die Fahrt durch die Stadt, vorbei am Stau, eine fröhliche Alternative zur Warterei am zugigen S-Bahngleis.

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