Amoklauf in München:"Nein! Mein Sohn ist nicht gestorben!"

Multiple Deaths In Munich Rampage Shooting

Provisorisches Hilfe- und Ermittlungszentrum in einem Kentucky Fried Chicken in der Nähe des Tatorts.

(Foto: Joerg Koch/Getty)

Seelsorger und Polizei müssen improvisieren, um Hinterbliebene, Augenzeugen und Festsitzende nach dem Amoklauf zu betreuen. Der Schock ist allgegenwärtig.

Von Kassian Stroh

Seelsorge, im wahrsten Sinne des Wortes. Seelsorge betreiben sie nun zu Dutzenden, müssen sie betreiben. Die Helferinnen des Krisen-Interventionsteams, die dort mit zwei erschütterten Frauen sprechen.

Zwei Bierbänke weiter sitzt ein Polizist in einer grünen Weste, seine Zeugenvernehmung einer dreiköpfigen Familie hat sich längst zu einem Gespräch über Ängste, Terror und Tränen ausgeweitet. Anderthalb Stunden dauert es nun schon.

Die Helferin des Arbeiter-Samariter-Bundes ein paar Meter links davon, die mit zwei Mädchen spielt, auch Malsachen hat sie ihnen mitgebracht. Halb drei Uhr ist es, und in der Werner-von-Linde-Halle, der Leichtathletik-Trainingshalle hinter dem Olympiastadion, befinden sich noch immer vier, fünf Dutzend Menschen, gestrandet in dieser Nacht des Terrors - und noch mehr Helfer.

Notunterkunft Olympia Leichtathletikzentrum

Improvisiertes Nothilfezentrum in der Werner-von-Linde-Halle hinter dem Olympiastadions.

(Foto: Kassian Stroh)

Es sind Menschen, die nicht wissen, wie sie nach Hause kommen sollen. Deren Auto noch am Olympia-Einkaufszentrum parkt. Deren Wohnungsschlüssel irgendwo in der Nähe des Tatorts liegen. Das OEZ ist ja weiterhin abgeriegelt.

"Nein, mein Sohn ist nicht gestorben", ruft die Frau

"Eigentlich bitter, dass man nur bei solchen Aktionen seine Nachbarschaft kennenlernt", sagt ein junger Mann zu einer Frau, die er hier gefunden hat. Und ihnen geht es ja noch gut, sie sind nicht verletzt, haben von den tödlichen Schüssen nichts mitbekommen. Und für ein paar der Kinder hier ist das hier sogar ein Vergnügen, sie rennen die Trainingsbahn entlang, hüpfen auf den Hochsprungmatten, klettern über Trainingshürden.

Nur draußen vor der Halle, da hat sich gerade der ganze Schrecken dieser Nacht offenbart. Eine junge Frau, umgeben von Familienangehörigen offenbar, ist schreiend zusammengebrochen- Hat versucht, ihren Kopf auf den Boden zu schlagen, mühsam zurückgehalten von einer Helferin. "Nein!", schreit sie, "mein Sohn ist nicht gestorben!" Offenbar doch - ein Sanitäter neben ihr nickt stumm. Ihr Wehklagen will nicht enden, die Frauen neben ihr weinen und beten, ein junger Mann ist 30 Meter weiter in die Wiese gegangen. Dann schreit auch er und sinkt in die Knie, die Augen vor Tränen verquollen. Da stehen auch die Helfer hilflos daneben.

Gegen 19 Uhr sind die Ehrenamtlichen des Roten Kreuzes alarmiert worden, die nun Kaffee ausschenken und andere Getränke, ein bisschen was zu essen haben sie auch. Binnen kürzester Zeit haben sie mit anderen Hilfsorganisationen gemeinsam dieses Notquartier aufgebaut, wo nun die Menschen an Bierbänken sitzen und über die Erlebnisse des Abends reden oder über Banales oder einfach schweigen. Manche liegen auf Turnmatten und versuchen zu schlafen.

Stundenlang im Sperrgebiet

Die Halle hat sich freilich seit halb zwei doch deutlich geleert. Da hat ein Polizist via Megafon verkündet, dass das Sperrgebiet nun aufgehoben sei, das OEZ einmal ausgenommen. Es ist das Quartier der vorerst Gestrandeten. Zum Teil haben sie bis zu sechs Stunden ausgeharrt, im OEZ oder im Elektronikmarkt Saturn oder dem Musikermarkt Just Music schräg gegenüber. Bis sie von der Polizei befreit und aus der Sperrzone gebracht worden sind, unter dem Geleitschutz schwerstbewaffneter Polizisten, in Zügen von bis zu Hundert Menschen.

Ihr erster Weg führt sie einen halben Kilometer südlich. Dort hat die Polizei in der Filiale eines Kentucky Fried Chicken eine Ermittlungsstelle eingerichtet. Zig Dutzend Kripobeamte vernehmen die Menschen. Wer von den Taten direkt etwas mitbekommen, gar gesehen oder Fotos oder Videos gemacht hat, kommt zuerst dran.

Provisorisches Kriminalzentrum Kentucky Fried Chicken München

Ermittlungsstelle im Kentucky-Fried-Chicken.

(Foto: Kassian Stroh)

Die anderen gelten nur als "Geschädigte", so der Jargon, von ihnen werden die Personalien aufgenommen, dann dürfen sie weg. Aber am besten nicht alleine. In Bussen des Technischen Hilfswerks oder einem Krankentransporter der Aicher-Ambulanz werden sie zur Werner-von-Linde-Halle gefahren. "Wir fahren auf einer Strecke, die die Polizei abgesperrt hat", beruhigt eine Sanitäterin die Eingestiegenen, die sich auf den Pritschen an der Seite drängen. "Da kann uns nichts passieren."

Auf dem Parkplatz vor dem Restaurant brummen noch die Generatoren, die Feuerwehr hat zwei Zelte aufgestellt, eines in Orange für die Vernehmungen, ein graues für Verletzte - es wird nicht gebraucht und gegen halb eins wieder abgebaut.

Da ist gerade der vermutlich letzte kleine Trupp von "Geschädigten" angekommen: ein Dutzend Frauen etwa. Im Karstadt im OEZ saßen sie sechs Stunden lang fest, bis Polizisten sie herausholten. 300, vielleicht 500 Menschen sind in den vergangenen Stunden eingetroffen. Wer ein bisschen Glück hat, wird in dem Schnellrestaurant vernommen, nicht draußen im Freien, wo es nun kalt geworden ist, es hat auch etwas geregnet zwischenzeitlich.

Drinnen ist jeder Tisch nun eine Polizeidienststelle, selbst an der Essensausgabe stehen die Kriminaler mit ihren dicken Mappen, in die sie alle relevanten Beobachtungen notieren. Und was davon wirklich wichtig ist, wird sofort nach oben in die Zentrale gemeldet. Auch hier sind die Mitarbeiter des Krisen-Interventionsteams tätig, als Seelsorger.

Wenig ist jetzt so wichtig wie ein Smartphone

Sie kümmern sich um Augenzeugen, die Schreckliches gesehen haben, teilweise auch um Menschen, die versucht haben, Verletzte zu versorgen, wie Martin Irlinger vom KIT berichtet. Um Kinder und Jugendliche, die ohne Eltern unterwegs sind. Oder um eine Verkäuferin, die erzählt hat, wie neben ihr ihre Chefin erschossen worden ist. Oder um die Frau dort hinten in einer dunklen Ecke, die noch immer ihr Kind sucht. Sie hat es verloren im OEZ, im Chaos. Es ist erst drei Jahre alt.

Wenig ist auf diesem Parkplatz so wichtig wie die Smartphones: um Neues zu erfahren, um Verwandte zu beruhigen, um den erlebten Schrecken mitzuteilen. Fast jeder hier starrt ständig in eines hinein. Erst später, in der Werner-von-Linde-Halle, spielen die Geräte kaum noch eine Rolle mehr.

Der Grund ist einfach, und deshalb ist die erste Frage, die ein Neuankömmling von den anderen Gestrandeten zu hören bekommt: "Hast Du Ladekabel?" So banal diese Frage, und zugleich so wichtig. Für die Seele können die Helfer hier sorgen, für Akkus nicht.

Anmerkung der Redaktion: Wie können Eltern mit ihren Kindern über die Ereignisse in München reden? Das Notfallpädagogische Institut hat Ratschläge zusammengestellt - hier als PDF.

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