Amoklauf in München:Der Brüller vom Balkon

Amoklauf in München: Thomas Salbey, Zeuge des Amoklaufes im OEZ.

Thomas Salbey, Zeuge des Amoklaufes im OEZ.

(Foto: Catherina Hess)

Thomas Salbey schleuderte vor einem Jahr dem Münchner Amokläufer Kraftausdrücke und eine leere Flasche entgegen. Die einen feierten ihn, andere zeigten ihn an. Noch heute erhält er Drohungen.

Porträt von Anna Hoben

Nach dem Amoklauf hat er die Geschichte viele Male erzählen müssen: Wie er sich nach Feierabend ein halbes Hendl und zwei Bier geholt hat, wie er sich auf den Balkon gesetzt hat. Wie er plötzlich Schüsse hörte, aufstand und hinabschaute auf das Parkdeck schräg rechts unter seinem Balkon. Wie er den Attentäter sah, der gerade seine Waffe nachlud. Er dachte an Nizza, er dachte an Terror. Die Wut stieg in ihm auf, er schleuderte seine Bierflasche vom Balkon und fing an zu brüllen. Er feuerte mit Worten, sein ganzes Repertoire an Kraftausdrücken bot er auf.

Dass der Mann mit der Waffe auf dem Parkdeck gerade neun Menschen umgebracht hatte - das wusste Thomas Salbey zu dem Zeitpunkt nicht. Als er später in den Medien sah, was passiert war, "das hat mir in der Seele weh getan".

Seit 14 Jahren wohnt Salbey in dem plattenbauartigen Haus hinter dem Olympia-Einkaufszentrum, seit dem 22. Juli 2016 kennt das ganze Land die Stimme des heute 57-jährigen Baggerfahrers. Vom Balkon darunter hat ein Nachbar mit dem Smartphone die Szene gefilmt.

Man sieht den Amokläufer David S. rastlos auf dem Parkdeck auf- und abgehen, und man hört, wie er auf Salbeys Schimpftiraden antwortet. Dass er Deutscher sei, dass er gemobbt worden sei. Ein gebrüllter Dialog entspinnt sich. Bis David S. erneut Schüsse abgibt, diesmal in Salbeys Richtung, der sich hinter die Beton-Brüstung duckt. Die Schüsse prallen am Balkon unter seinem ab.

Nein, sagt er, sein Leben hat sich nicht verändert durch den Amoklauf. Aber natürlich ist vieles anders. Das Video landet im Internet, Salbey ist plötzlich ein Mann der Öffentlichkeit. Auf Facebook wird gestritten, ob er ein Held ist, weil er den Amokläufer verwirrt hat - oder ob er andere Menschen zusätzlich in Gefahr gebracht hat und zudem ein Ausländerfeind ist. Eine Äußerung aus dem Video legt das nahe. Nach einer Woche des Terrors, Nizza, Würzburg, Ansbach, wird der Münchner Balkonbrüller zur Projektionsfläche für die Ängste der Deutschen.

Wahrscheinlich hat er Schlimmeres verhindert

Jemand erstattet sogar Anzeige wegen fahrlässiger Tötung gegen Salbey: Er habe den Täter durch sein Verhalten erst zu der Tat provoziert. Die Staatsanwaltschaft stellt das Verfahren ein - weil der Ablauf anders war und weil die Äußerungen möglicherweise noch Schlimmeres verhindert haben.

Salbey bekommt jetzt Fanpost: "Danke für Ihren Einsatz", schreibt jemand. Immer wieder kommen Jugendliche auf Salbey zu und wollen ein Bild mit ihm machen. Ob er keine Angst hatte auf dem Balkon, wollen sie wissen. Nein, sagt er. Doch er erhält auch Drohungen. "Bombe" steht auf Zetteln geschrieben, die plötzlich an seiner Tür hängen.

Die Zeitungsberichte über sich liest er nicht, ein Freund sammelt sie für ihn. Ein TV-Sender lädt ihn nach Berlin ein. Zum ersten Mal in seinem Leben sitzt Salbey in einem Flugzeug, zum ersten Mal sieht er die deutsche Hauptstadt. Die Bedingungen für seinen Auftritt in der Sendung: keine Kraftausdrücke, keine politischen Äußerungen - und nach Möglichkeit soll er Hochdeutsch sprechen.

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