Altstadt:Theater-Karussell

Ein uneingelöstes "Junges Abo" für die Münchner Kammerspiele kann kurz vor Saisonende zu Kulturstress führen. Wer eine Woche lang jeden Abend Menschen beim Deklamieren zusehen muss, braucht Kondition und Gleichmut

Von Margarethe Gallersdörfer, Altstadt

Geschenkgutscheine sind großartig. Das Dumme an ihnen: Man muss sie nutzen. Etwas Schönes unternehmen, im Voraus bezahlt von jemandem, der einen gern hat - eigentlich kein Problem. Aber was tun, wenn man im Januar ein "Junges Abo" der Münchner Kammerspiele geschenkt bekommt - und erst zu Beginn der letzten Spielwoche im Juli merkt, dass man von den sechs Freikarten noch keine einzige eingelöst hat? Verfallen lassen kommt nicht in Frage. Sechs Spieltage stehen noch auf dem Plan im Internet, neben fast jeder Aufführung steht mahnend "Zum letzten Mal". Also verbringt man eine Woche lang jeden Abend an der Maximilianstraße. Eine Halbzeitbilanz.

Erster Abend, es ist Montag, 20. Juli, 20.05 Uhr. Die Hauptdarstellerin des Stücks "Susn", Brigitte Hobmeier, steht auf der Bühne und sagt: "Kunst". "Jawohl, Kunst", denkt die Zuschauerin, die verschwitzt und mit einem frischen Bußbescheid des MVV in der Tasche in der letzten Reihe sitzt. Wie sich herausstellt, reicht es für einen Theaterbesuch nicht, ein "Junges Abo" zu haben; man sollte auch pünktlich aufbrechen und nach Möglichkeit seinen Geldbeutel nicht vergessen. Der letzte Theaterbesuch ist mehr als sechs Monate her, der vorletzte zwölf. Aber nun: Kunst. Und zwar eine Woche lang jeden Abend.

"Kunst", sagt Hobmeier alias "Susn" noch einmal. Die Luft im Werkraum der Kammerspiele ist zum Schneiden dick, doch die Zuschauer gemischten Alters sind - bis auf eine Ausnahme - unverdrossen und sehr aufmerksam. Dann die Auflösung: "Konnst du di ned anständig verabschieden?" Das wollte sie sagen, die Susn vom bayerischen Land, die nun den Raum eine Stunde und zwanzig Minuten lang in ihren Bann zieht. Man kann den Blick kaum von ihr abwenden: In vier Monologen geht sie an der Welt kaputt.

Altstadt: Der Mann (Risto Kübar) liegt am Boden, doch zerstört werden die Frauen: (von links) Annette Paulmann, Wiebke Puls, Angelika Krautzberger.

Der Mann (Risto Kübar) liegt am Boden, doch zerstört werden die Frauen: (von links) Annette Paulmann, Wiebke Puls, Angelika Krautzberger.

(Foto: A. Huber)

Aber das mit starken Sätzen. Susn über ihren Kirchenaustritt: "Ich wollte nicht länger in der Gemeinschaft derer bleiben, von denen ich weiß, dass ihr Glaube nur eine Kopfhaltung ist." Hätte einem auch mal einfallen können, als man die Firmung verweigern wollte. Als es vorbei ist, gibt es tosenden Applaus, ein paar trampeln mit den Füßen. Ein bedauernder Blick auf das einzelne Löchlein im Abo: Brigitte Hobmeier wäre wirklich mehr als nur eine Freikarte wert gewesen. Doch sie bleibt an den Kammerspielen, wenn Matthias Lilienthal im kommenden Herbst den scheidenden Intendanten Johan Simons ablöst. Es wird andere Gelegenheiten geben.

Zweiter Abend, Schauspielhaus, 19.30 Uhr. Es gibt Tennessee Williams an diesem Abend, "Orpheus steigt herab". Das Publikum ist deutlich älter als im Werkraum und etwas gereizter. Ein echtes Motorrad fährt unzählige Male über die Bühne, die Abgase strömen in den Zuschauerraum. Mehrere Leute stehen auf und gehen. "This is just too much", murmelt ein Mann in der zweiten Reihe und strebt hastig Richtung Ausgang. Aber das Bühnenbild ist gut, das hätte auch er zugeben müssen. Die Figuren bauen im Verlauf der Handlung ein riesiges Kettenkarussell zusammen. Am Ende tosender Applaus, sicher nicht nur, weil es die letzte Aufführung war. Auch im Schauspielhaus ist die Luft drückend.

Jetzt aber schnell zur S-Bahn. Unterwegs: An der Tür einer Tabledance-Bar verhandelt eine Frau mit einem guten Dutzend sehr junger Spanier. "Ten. Euros. Each", sagt sie mehrmals, Passanten verdrehen grinsend die Köpfe. Ein Bettler sitzt vor seinem Münzbecher, am gleichen Platz wie schon am Tag zuvor. Man würde ihm etwas geben, hätte man nicht auf dem Hinweg sein Gespräch mit einem anderen Mann belauscht. "De miassn si doch an uns opassn", hat er gesagt. Der andere: "Des hett i a g'moant." Es ist sehr warm.

Kammerspiele

Der Vorhang fällt: Bei den Münchner ist die letzte Spielwoche angebrochen.

(Foto: J. Röder)

Dritter Abend, Schauspielhaus, 20 Uhr: "Die Wörter ruinieren das Denken". Doch der Werkraum ist vollständig ausverkauft. Also ein doppelter Tennessee Willams: Im Schauspielhaus wird "Camino Real" aufgeführt. Das Stück, eine Stunde und fünfzig Minuten lang, gleicht einem Fiebertraum und handelt von einer zerfallenden Gesellschaft. Oder so.

Es ist mehr Durchhalteübung als Genuss - eine Dame verlässt nach einer Dreiviertelstunde die Aufführung. Ihr nicht zu folgen, fällt schwer. Es spielen zum Teil die selben Schauspieler wie am Tag zuvor. Ungünstig innerhalb eines Kammerspiel-Marathons: Was am Tag zuvor in "Orpheus steigt herab" noch wie ein ganz besonderer Zugang zu einer Figur wirkte, verkommt nun zur Masche. Das Publikum scheint sich zu freuen über die wilden Verrenkungen und die affektierte Stimme des Kilroy, gespielt von Risto Kübar. Wenn man im Abo-Endspurt ist, hat man sein Theater schon am Tag zuvor bei einer ganz anderen Figur beobachtet und ist nun entsprechend genervt. Und die vielen zerstörten Frauen schlagen langsam aufs Gemüt: Nach der gebrochenen wilden Susn, den Gemeinen, Verrückten und Enttäuschten in "Orpheus steigt herab" mit einer toten Schwangeren als krönendem Abschluss ist "Camino Real" das dritte Paneel weiblichen Elends. Der Applaus ist eine Erlösung.

Nach der Vorstellung scheint die Vorstellung draußen irgendwie weiter zu gehen. Im Hotel "Vier Jahreszeiten" auf der anderen Seite der Maximilianstraße ist eine Party in vollem Gange. Mit Türstehern, sommerlichem Elektro und einer goldenen Sichtblende, welche die Feiernden abschirmt. Vor der Tabledance-Bar stehen zwei Frauen, sie wispern und kichern. Die junge Frau, die mit einem Eisbecher in der Hand an ihnen vorbei geht, fühlt sich gemeint. Sie zieht den Bauch ein, läuft schneller.

Der Bettler ist nicht auf seinem Platz. Nur seine Sitzunterlage und ein Koffer liegen herum. Sogar der hat einen Rollkoffer, denkt die Passantin noch, ach München. Dann merkt sie, dass der Mann in der Nähe gar kein Tourist ist. Er zündet eine Zigarette an, geht zu der Sitzunterlage, setzt sich. Erst jetzt sieht er wie ein Bettler aus. Es ist die Kopfhaltung.

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