Altersarmut:Wenn Einsamkeit und Krankheit zusammenkommen

Altersarmut: Ohne ihren Rollator kann Anne E. nicht einmal vom Bett in ihre Wohnküche gelangen, auch wenn es nur ein paar Schritte sind.

Ohne ihren Rollator kann Anne E. nicht einmal vom Bett in ihre Wohnküche gelangen, auch wenn es nur ein paar Schritte sind.

(Foto: Catherina Hess)

Ehemann und Sohn verstorben, die Tochter querschnittsgelähmt: Anna E. hatte vor neun Jahren einen Schlaganfall und kann ihre Wohnung nicht mehr verlassen.

Von Thomas Anlauf

Das Leben da draußen, es ist so weit weg. 64 Stufen sind es nach unten, 64 wieder hinauf. Zu viele Stufen für Anna E., das schafft sie nicht mehr. Seit drei Jahren hat sie ihre kleine Wohnung nicht mehr verlassen können. Oben, im vierten Stock eines alten Wohnblocks, sieht sie nur den Verkehr auf dem Mittleren Ring. Sie kann nicht sehen, dass unten im Schreibwarenladen ein kleiner Tannenbaum in der Auslage glitzert.

Sie weiß auch nicht, was aus der kleinen Wirtschaft in der Stadelheimer Straße geworden ist, wo sie so viele Jahre bedient hat. "Wenn i kannt, wia i mechad, dad i no arbeiten", sagt sie und streicht in Gedanken über die alte Plastiktischdecke in ihrer winzigen Wohnküche. "Aber mir fällt ja ois aus der Hand." Dabei braucht die 75-Jährige jeden Cent, um irgendwie über die Runden zu kommen. Anna E. hat 180 Euro im Monat zum Leben, sechs Euro am Tag.

Eine Tasse billiger Pulverkaffee

Auf dem Herd steht eine verbeulte rote Pfanne, darin liegen ein paar Streifen roter Paprika und Zwiebelstückchen, auf einem Plastikbrettchen sind einige dünngeschnittene Kartoffelscheiben vorbereitet. Das ist ihre warme Mahlzeit an diesem Tag. Wenn der Monat fortgeschritten ist, muss sie sich schon genau überlegen, was sie sich überhaupt noch zum Essen leisten kann, bis die kümmerliche Rente wieder auf dem Konto ist.

Eine Tasse billigen Pulverkaffee am Tag gönnt sie sich, zu mehr reicht es nicht. Die Kosten für Tabletten, Verbandszeug und Teststreifen für den Blutzuckerspiegel verschlingen monatlich 130 Euro. Allein für das Blutverdünnungsmittel muss sie fast die Hälfte des Preises selbst zahlen, aber sie braucht es eben dringend. "I hab halt dickes Blut", sagt sie und lacht vergnügt.

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Dabei hatte Anna E. wirklich nicht viel zu lachen im Leben. Die gebürtige Münchnerin verlor ihren Ehemann, da war sie gerade 35 Jahre alt. Zwei Kinder hatte sie von ihm, einen Bub und ein Mädchen. "Mei, der Bua hat a Geld gekostet", sagt sie. Damals, als sie beim Benno in der Wirtschaft gearbeitet hat, ging viel von dem Verdienten in die Kleidung und in die Ausbildung der Kinder. Der Bub hatte gerade seine Ausbildung als Konstrukteur abgeschlossen, acht Tage später stürzte er auf einer Baustelle aus dem fünften Stock und war auf der Stelle tot. Ihre Tochter, die in Berlin lebt, hatte später einen Verkehrsunfall, seither ist sie querschnittsgelähmt.

Vor ein paar Jahren, als Anna E. noch besser zu Fuß war, hat sie ihre behinderte Tochter trotz der teuren und langen Anfahrt hin und wieder besucht. Aber jetzt geht das nicht mehr. Als neulich ihre Enkelin aus Berlin anrief und fragte, ob die Oma denn an Weihnachten zu Besuch nach Berlin komme, hat sie ihr gesagt: "Bleib du bei der Mama, i bleib dahoam." Als sie das erzählt, rinnt ihr eine Träne über die Wange. "Vor Weihnachten wird's mir schon bang", sagt sie. Sie würde sich dann so gern ein Stückchen Fleisch braten zum Fest. Aber dann ist der Monat halt schon wieder fast vorbei.

Die nächste Mieterhöhung ist gekommen

Vor neun Jahren hatte Anna E. einen Schlaganfall und braucht seither einen Rollator. Ohne ihn kann sie nicht einmal vom Bett in ihre Wohnküche gelangen, auch wenn es nur ein paar Schritte sind. An einen Ausflug oder einen Friseurbesuch wagt sie gar nicht zu denken. Die 64 Stufen kommt sie zwar mit Mühe hinunter, eine Stunde hat sie früher dafür gebraucht. Nach oben müsste sie getragen werden, aber so eine Hilfeleistung kostet viel Geld

Seit 20 Jahren wohnt Anna E. nun in der kleinen Wohnung in Giesing, jetzt hat sie wieder mal eine Mieterhöhung bekommen. Wie sie die bezahlen soll, weiß sie nicht. Zumal sie erst kürzlich alles, was sie in fünf Jahren angespart hatte, ausgeben musste, 450 Euro. "Der Fernseher war doch kaputt", sagt sie. Der Kühlschrank war auch schon 30 Jahre alt. Und die Wände mussten dringend gestrichen werden. Ein Mann von der Nachbarschaftshilfe hat sie für 100 Euro geweißelt, für die Decke hat das Geld aber nicht mehr gereicht.

Trotz all ihrer Beschwerden und Einschränkungen - Anna E. leidet unter Arthrose und Diabetes, an Durchblutungsstörungen und Bluthochdruck - ist sie fröhlich geblieben. "I bin ganz zufrieden mit meinem Leben", sagt sie. Auch wenn sie so gerne mal wieder auf die Straße gehen würde. Oder in die Wälder, wie damals als kleines Mädchen, als sie barfuß in die Schwammerl gegangen ist oder mit ihren fünf Schwestern Beeren gesammelt und die dann am Markt in München verkauft hat. "I möcht' am liebsten ois wieder 70 Jahre zurückdreh'n", sagt sie leise. Damals war zwar Krieg und die Familie hatte kein Geld. "Aber es war trotzdem schee, wir waren glücklich."

Verarmte Menschen wie Anna E. erhalten natürlich Unterstützung. Wegen ihrer geringen Rente bekommt sie Grundsicherung, außerdem hilft ihr täglich jemand von der Nachbarschaftshilfe beim Waschen, Anziehen und Einkaufen. Aber für mehr als zum Überleben reicht das Geld einfach nicht. In München beziehen mittlerweile 14 000 Menschen über 65 Jahre Grundsicherung, weil die Renten nicht reichen. Viele von ihnen haben ihr Leben lang in gering bezahlten Jobs gearbeitet, wurden arbeitslos oder so krank, dass sie nicht mehr arbeiten konnten.

Seit einem Vierteljahrhundert eine Leidensgeschichte

So wie Peter H.. Die Leidensgeschichte des heute 62-jährigen Münchners begann vor einem Vierteljahrhundert. Er hatte Knochenkrebs, bekam Chemotherapien, hatte schreckliche Schmerzen im linken Bein, das immer stärker anschwoll. Schließlich mussten die Ärzte ihm das Bein zum Teil abnehmen. Doch damit war das Leiden nicht vorbei. "Ich hatte immer wieder bakterielle Entzündungen", sagt Peter H., vor vier Jahren entschloss man sich zu einer Hüftexartikulation: Das gesamte Bein bis zur Hüfte wurde entfernt.

Peter H. sitzt in seiner Einzimmerwohnung im Rollstuhl, die Sonne scheint durch die Terrassentür. "Das Seltsame ist: Der Stumpf ist da, es ist ein dreidimensionaler Schmerz", sagt er und deutet auf die leere Stelle auf dem Rollstuhl. Phantomschmerzen, damit kämpft er bis heute. Doch sonst geht es ihm zumindest gesundheitlich wieder etwas besser. Und seinen Lebensmut hat er sich auch durch sein langes Leiden nicht nehmen lassen: "Es gibt zwei Wege: Du kannst dich beschweren, was du als Rollstuhlfahrer alles nicht mehr machen kannst. Aber du kannst dich auch damit beschäftigen, was du trotzdem alles machen kannst", sagt er und lacht.

Eichhörnchen und Kater als Weggefährten

In seiner kleinen Wohnung hat er ein Mini-Keyboard, auf dem er gelegentlich spielt, und den Computer, der für ihn das Fenster zur Welt ist. Als er vor zwei Jahren in die kleine Erdgeschosswohnung in Neuperlach zog, besuchte ihn bald regelmäßig ein Eichhörnchen. "Felix war mein erster Freund hier", sagt H. lächelnd. Er versorgt das Tier seither mit Nüssen, die er auf die Terrasse legt. Und seit ein paar Monaten hat er auch noch Anasco, den getigerten Kater.

Der gehörte eigentlich der Tochter einer Nachbarin, die nach München gezogen waren. Doch bei Peter H. fühlt er sich offenbar mehr zu Hause, er kann dort über die Terrassentür ein- und ausgehen, erhält von Peter H. so viele Streicheleinheiten wie er will und drei Mal am Tag ein Schälchen mit Fressen. "Das Futter geht natürlich ganz schön ins Geld", sagt H., außerdem war er mit Anasco erst vor ein paar Tagen beim Tierarzt, um den Kater impfen und einen Chip implantieren zu lassen. 150 Euro hat das gekostet, Geld, das H. eigentlich nicht hat.

Denn seit Ausbruch der Krankheit ist Peter H. arbeitsunfähig, mit 36 Jahren konnte er seinen Beruf bei einem Sicherheitsdienst nicht mehr ausüben. Mit dem bisschen Rente und der Grundsicherung "kann ich natürlich keine großen Sprünge machen", sagt er. Oft genug gibt es nur eine Mahlzeit am Tag, dann fährt er mit dem Rollstuhl zum Thailänder in der Nähe und bestellt sich für drei Euro Nudeln. "Das reicht mir, dann habe ich was Warmes."

Er gibt das wenige Geld, das er hat, lieber für seinen neuen Freund, den Kater, aus. "Er soll es hier so gut wie möglich haben", sagt Peter H. und krault Anasco. Der hat sich gemütlich eingerollt an seinem Lieblingsplatz. Er liegt bei Peter H. auf dem Rollstuhl.

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