Ärztemangel in München:Wie auf dem Land

Ärztemangel in München: "Der Druck wächst": Hausärztin Christa Scholtissek in ihrer Praxis.

"Der Druck wächst": Hausärztin Christa Scholtissek in ihrer Praxis.

(Foto: Catherina Hess)

München kann sich nicht über einen Mangel an Ärzten beklagen - und doch findet sich kaum ein Allgemeinmediziner, der in Stadtvierteln wie dem Hasenbergl arbeiten will. Für die verbleibenden Hausärzte hat das drastische Folgen.

Von Inga Rahmsdorf

Wenn Patienten zu Christa Scholtissek kommen, schmerzt der Kopf oder der Rücken, ihnen ist übel, oder sie klagen über Fieber. Manchmal steckt einfach ein grippaler Infekt dahinter, manchmal ist es ein Bandscheibenvorfall. Nicht selten steckt aber noch etwas ganz anderes hinter der Krankheit. Dann hilft kein medizinisches Lehrbuch weiter, nichts von dem, was Christa Scholtissek im Studium gelernt hat.

Die Hausärztin führt gemeinsam mit zwei Kollegen seit mehr als 30 Jahren eine Praxis in München am Hasenbergl. Viele ihrer Patienten kennt sie schon seit Jahren oder sogar Jahrzehnten. Und oft weiß sie weit mehr von ihnen als nur das, was man auf Röntgenbildern sieht oder an den Blutwerten ablesen kann. Es ist das, was die Menschen erzählen, wenn die Hausärztin sich Zeit nimmt und nachfragt: Schulden, Arbeitslosigkeit oder die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, Konflikte in der Familie oder eine psychische Erkrankung. Armut macht krank, sagt Scholtissek. Sie erlebt täglich, wie Krankheit und Geld zusammenhängen. Nicht nur bei ihren Patienten, sondern auch im deutschen Gesundheitssystem.

Armut macht krank

Der Flur der Gemeinschaftspraxis ist Empfangsbereich und Wartezimmer zugleich. Es gibt keine Ledersessel und keine Stapel medizinischer Hochglanzbroschüren. Nur zwei Holzbänke, auf dem Tisch steht eine Karaffe mit Wasser, daneben liegt eine Tageszeitung. Auf der Bank wartet eine Mutter mit ihrem Sohn. Die Ärztin kommt etwas später, sie hat noch einen Hausbesuch gemacht.

Die Patientin wäre eigentlich körperlich fit genug, um in die Praxis zu kommen. Doch sie verlässt ihre Wohnung nicht, weil sie psychisch krank ist. Der soziale Pflegedienst hatte sich bei Scholtissek gemeldet, also ist die Ärztin zu der Frau gefahren - obwohl sie bisher nicht ihre Patientin war und eigentlich noch drei unerledigte Hausbesuche aus der vergangenen Woche auf ihrer Liste stehen. Drei Patienten, die sie schon seit Langem betreut und die zu alt oder krank sind, um ihre Wohnungen zu verlassen. Scholtissek schaut regelmäßig bei ihnen vorbei, nimmt Blut ab, horcht die Brust ab, misst den Blutdruck. Die müssen weiter warten. Wieder einmal sind zu viele akute Fälle dazwischen gekommen.

"Der Druck wächst", sagt die Ärztin. Die Praxis von Scholtissek und ihren Kollegen Peter Trumpp und Alexander Dipping ist eigentlich völlig überlaufen. Doch wer in der Umgebung wohnt, wird behandelt. Das gehört zum Selbstverständnis der drei Ärzte. Aber es wird immer schwieriger, dem eigenen Anspruch gerecht zu werden und alle Patienten zu versorgen. Denn Hausärzte aus dem Viertel, die in Ruhestand gehen, finden kaum noch Nachfolger.

Aus dünn besiedelten ländlichen Gebieten kennt man das Phänomen: Der Landarzt findet keinen Nachfolger mehr. Für junge Mediziner ist es attraktiver, in boomenden Städten ihre Praxis zu eröffnen. Politiker und Kommunen lassen sich bereits einiges einfallen, um Mediziner in die Provinz zu locken. So wie das Bundesland Sachsen unterstützt auch der Freistaat Bayern mittlerweile Medizinstudenten, wenn sie sich verpflichten, einige Jahre auf dem Land zu arbeiten. Doch die Praxis von Scholtissek liegt ja gerade nicht in einer strukturschwachen Provinz. Sie liegt in einer der wohlhabendsten Großstädte Deutschlands, am nördlichen Rand von München, im Hasenbergl.

München ist überversorgt - aber nicht überall

Das Paradoxe daran ist: Eigentlich sieht es gut aus mit der ärztlichen Versorgung in München. Sogar sehr gut. "Überversorgung" wird das in der Fachsprache genannt. Die Kassenärztliche Vereinigung steckt auf der Karte Gebiete ab, München und der Landkreis bilden einen Bedarfsbereich. Dann wird errechnet, wie viele Einwohner auf einen Arzt kommen. In München und dem Landkreis arbeiten etwa 1400 Allgemeinmediziner bei 1,9 Millionen Einwohnern. Das ist ein guter Schnitt, ein Versorgungsgrad von 123 Prozent, der nach den Standards der Kassenärztlichen Vereinigung als Überversorgung gilt. Daher sind neue Niederlassungen auch nicht möglich. Wer eine Praxis gründen möchte, muss in der Regel eine Zulassung übernehmen. Umso erstaunlicher ist es, dass Hausärzte im Hasenbergl kaum noch Nachfolger finden.

Ärztemangel in München: Bei der Arbeit von Hausärzten ist es oft nicht mit Blutdruckmessen und Abhören getan.

Bei der Arbeit von Hausärzten ist es oft nicht mit Blutdruckmessen und Abhören getan.

(Foto: Catherina Hess)

Heinrich Müller hat das zu spüren bekommen. Der heute 70-Jährige, der nicht möchte, dass sein richtiger Name in der Zeitung steht, ist vor einigen Jahren in Rente gegangen und hat seine Praxis im Hasenbergl verkauft. Lange hat der Hausarzt einen Nachfolger gesucht. "Bis ich die Praxis fast verschenkt habe", sagt Müller, "weil niemand ins Hasenbergl wollte." Wenn er auf das Thema zu sprechen kommt, dann klingt er immer noch verbittert. Die Praxis sollte Teil seiner Altersvorsorge sein. Politiker und die Kassenärztliche Vereinigung hätten die Hausärzte im Hasenbergl im Stich gelassen, sagt er. Und Müller kritisiert, dass es beim Medizinstudium heute nur um Noten geht. "Aber die Einser-Kandidaten sind nicht die besseren Hausärzte." Die zwei jungen Allgemeinmediziner, die schließlich seine Praxis übernommen haben, sind nicht lange geblieben, sie haben nach kurzer Zeit aufgegeben. Nun gibt es einen Hausarzt weniger im Hasenbergl.

Nicht alle können zum Arzt fahren

Doch warum gehen die Patienten aus den Stadtrandgebieten dann nicht einfach im Zentrum zum Arzt? Schließlich müssen sie - anders als beim Landarztmangel - nicht weit fahren. "Die Menschen, die dringend auf einen Hausarzt im Viertel angewiesen sind, sind meist Patienten, die gar nicht oder nur wenige Hundert Meter laufen könnten", sagt Scholtissek. Gerade für alte, schwer kranke oder psychisch kranke Menschen ist es eine weite Reise in Münchens Innenstadt. Umgekehrt stellt sich die Frage, warum junge Ärzte dann nicht ins Hasenbergl pendeln wollen.

Karin Schiller (Name von der Redaktion geändert) ist Allgemeinmedizinerin und war in einer Münchner Klinik angestellt, nachdem sie ihre Ausbildung zum Facharzt abgeschlossen hat. Doch auf 60 bis 80 Wochenstunden Arbeitszeit hat sie keine Lust mehr. Deswegen hat die 40-Jährige ihren Job gekündigt. Schiller würde gerne eine eigene Praxis eröffnen, sie hat sich schon Praxen in verschiedenen Stadtteilen angesehen, die zum Verkauf angeboten werden. Und sie hat sich bei der Kassenärztlichen Vereinigung beraten lassen. "Doch eine eigene Praxis zu gründen, das ist einfach nicht attraktiv", sagt sie. Auch nicht im Hasenbergl. Dann rechnet Schiller vor, was sie zahlen müsste, um in München eine Praxis zu übernehmen. Insgesamt 100 000 bis 280 000 Euro. Dafür müsste sie einen Kredit aufnehmen. "Da müsste ich praktisch Tag und Nacht arbeiten, damit sich das rentiert."

Mutter Teresa ist keine Option

Schiller bereut es nicht, Allgemeinmedizinerin geworden zu sein. Sie mag ihre Arbeit, weil sie sich nicht nur auf einen Körperteil konzentriert, sondern sich mit dem ganzen Menschen beschäftigen kann. Doch nach den Jahren als Assistenzärztin und in Kliniken hat sie gemerkt, dass sie so nicht mehr leben möchte. Sie spricht von Work-Life-Balance. Heute bereut sie es, keine Kinder bekommen zu haben, aber sie wusste einfach nie, wie die noch in ihren Alltag passen sollen. Als Schiller vor Kurzem mit einem Hausarzt sprach, der in Ruhestand gehen wollte, hat der genervt gesagt: "Work-Life-Balance - Sie sind jetzt schon die Dritte, die davon spricht."

Viele junge Mediziner fordern geregelte Arbeitszeiten, wollen auch Zeit für sich und ihre Familie haben. Schiller wohnt selbst im Münchner Norden. Aber auch, wenn sie im Hasenbergl eine Praxis günstiger bekommen würde als in anderen Vierteln, wäre das keine Option für sie. "Wenn man eine Praxis dort aufmacht, dann muss man schon Mutter Teresa sein", sagt sie.

Respekt für die Mediziner

Christa Scholtissek mag ihre Arbeit als Hausärztin, und sie schätzt das Hasenbergl, die tolle Nachbarschaft und Hilfsbereitschaft im Viertel. "Es geht hier nicht nur theoretisch um Medizin. Wir reden mit den Leuten, um sie zu begleiten und handlungsfähiger zu machen." Als Hausarzt werde einem im Hasenbergl noch Respekt entgegengebracht, so, wie früher im Dorf dem Landarzt, sagt auch Kollege Trumpp. Die Patienten würden ihnen nicht die neuesten Studien aus dem Internet um den Kopf hauen und sie bei Diagnosen verbessern. Scholtissek und Trumpp jammern nicht über ihre Arbeit, aber sie können auch verstehen, dass junge Ärzte dort keine Praxis übernehmen wollen.

Neben all den medizinischen Aufgaben ist ein selbständiger Hausarzt schließlich auch Unternehmer. Er muss zusehen, dass seine Praxis läuft, dass er die Miete und seine Angestellten zahlen und den Kredit abbezahlen kann. Für die Untersuchung und Grundversorgung eines Kassenpatienten gibt es Pauschalen, die der Hausarzt erhält, sobald ein Patient zu ihm kommt. Fallen dabei keine zusätzlichen Leistungen an, dann kann es sein, dass der Hausarzt die gleiche Summe erhält, egal ob der Patient einmal oder sechsmal im Quartal kommt - egal, ob einer nur eine Krankschreibung und wenige Minuten oder eine zeitintensive Zuwendung braucht. Nur ein bis zwei Prozent der Patienten in ihrer Praxis sind Privatpatienten.

Der Aufwand wächst immerzu

Zudem wächst der Aufwand an Bürokratie, sagt Scholtissek. Sie zieht einen Stapel Unterlagen heran. "Erst fülle ich ein Formular aus, um einer Patientin eine häusliche Krankenpflege zu verordnen. Anschließend bekomme ich einen Fragebogen zugeschickt, in dem ich dann noch einmal die Notwendigkeit begründen muss", sagt sie. Daneben fällt vieles an, was nicht in der Honorarverordnung steht. "Einfach ein Rezept in die Hand drücken, das kann ich bei vielen Patienten gar nicht machen", sagt die Ärztin. Weil sie nicht das Geld vorstrecken könnten, auch wenn sie die Kosten später erstattet bekommen. Oder weil sie nicht wissen, wie sie den Freistellungsauftrag bei der Krankenkasse stellen müssen. Ein Info-Plakat im Wartezimmer aufhängen und davon ausgehen, dass alle das lesen, funktioniere auch nicht. Die Zahl der Analphabeten sei relativ hoch.

Scholtissek und ihre Kollegen sind nicht nur Ärzte, sondern auch Netzwerker. Bei ihrer Arbeit müssen sie mehr leisten als nur die medizinische Versorgung. Denn bei vielen Problemen helfen keine Tabletten, Hausmittel oder Krankengymnastik. Dann vermitteln die Ärzte an die Schuldnerberatung, den Pflegedienst oder andere Einrichtungen. Das braucht Zeit. Deshalb fordern sie mehr Unterstützung und ein soziales Netzwerk, auf das sie zurückgreifen können. Zudem kritisieren die drei Hausärzte, dass die sozialen Kompetenzen im Medizinstudium viel zu kurz kommen. Dadurch seien junge Mediziner schnell überfordert, wenn sie in Vierteln wie dem Hasenbergl eine Praxis übernehmen.

Immerhin müssen sich Scholtissek und ihre Kollegen keine Sorge um einen Nachfolger machen, wenn sie in Rente gehen. Der Sohn von Peter Trumpp ist Allgemeinmediziner, er hat bereits während seiner Weiterbildungszeit in der Praxis gearbeitet und wird demnächst einsteigen. Um ausreichend Zeit für seine Patienten zu haben, möchte er die Hausbesuche dann aber auf das Notwendigste beschränken.

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