Adventskalender für gute Werke (I):Wenn Kinder keine Rechte haben

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Zu wenig Geld für Fußball oder Musikunterricht: In München leben Eltern und Alleinerziehende oft unter dem Existenzminimum.

Monika Maier-Albang

Wenn Michel sich sein Zimmer erträumt, dann ist es rot und blau und weiß. Rot und weiß wie der FC Bayern. Blau und weiß wie bei Schalke 04. Ein Teppich mit aufgemalten Fußbällen liegt am Boden, ein Kicker hat hier Platz und ein Schrank für Spielsachen. Auf einem Schreibtisch steht ein Laptop, an dem der Junge üben kann, was er in der Computer AG lernt. Bis jetzt hat Michel von all dem nur eines: eine blaue Wand.

In drei Zimmern wohnt Familie B.; 60 Quadratmeter für fünf Personen. Die beiden Mädchen schlafen im Stockbett, Michel hat sein Bett über Eck. Die Mädchen wollten die Wände rosa, da haben sich die Geschwister geeinigt: Eine Wand ist blau gestrichen, eine rosa. Michel ist elf, seine Schwestern Sandra und Vanessa sind acht und sechs Jahre alt. Bislang teilten sie sich ein Zimmer. "Aber das geht in dem Alter nicht mehr", sagt die Mutter. Also werden die Eltern umziehen ins Wohnzimmer. Ihr jetziges Schlafzimmer, in das gerade ihr Doppelbett passt, soll Michel bekommen. Für die Eltern wird es unruhig werden in ihrem Zimmer, das auch das Spielzimmer der Kinder ist. In Sorge, dass sie abends nicht einschlafen kann, ist Frau B. trotzdem nicht. "Am Abend bin ich eh sehr müde", sagt sie.

Jelena B. geht Putzen. "Fitnesscenter brauche ich nicht", scherzt sie und lobt die noch neue Stelle. Weil sie hier um halb acht anfängt, nicht wie früher um halb sechs, was bedeutete, dass sie um vier Uhr morgens aufstehen musste. Ihr Mann kümmert sich um den Haushalt, so gut er kann. Mirkan B. ist schwer zuckerkrank. Er zeigt seinen Schwerbehindertenausweis, der belegt, was man ohnehin sieht: Dass es ihm nicht gut geht.

Im Gang hängt ein altes Foto: ein Paar mit dem ersten Kind auf dem Arm. Mirkan B. hat da noch volles Haar und er strotzt vor Kraft. Vor 25 Jahren kam er aus Ex-Jugoslawien nach München, fand gleich Arbeit als Koch in einem Restaurant. Heute ist er 47, kann kaum hören und hat Herzprobleme. "Viel Stress mit der Kündigung", sagt er. Das Restaurant hatte den Besitzer gewechselt, lief nicht mehr gut. Mirkan B. wurde entlassen, versuchte sich mit einem Getränkehandel selbständig zu machen. Geblieben ist ein Berg Schulden, den die Familie in Raten abträgt.

Teures Freibad

Trotz allem versucht das Ehepaar, die Kinder nicht zu kurz kommen zu lassen. Michel war im Schullandheim dabei, in der Nähe von Altötting. "Der Ausblick auf die Burg und zum Wald war toll", erinnert er sich. "Natur ist gut", ergänzt seine Mutter und erzählt, dass sie sich schon freue auf den Schnee. Dann will sie raus mit den Kindern zum Schlittenfahren. Ein schönes, ein günstiges Vergnügen. Im Sommer ist es härter mit den Kindern. Sie wollen ins Freibad. Das ist für sie mit Ferienpass zwar umsonst. Doch die Mutter, die die Kleinen begleitet, muss sich die drei Euro Eintritt mühsam ansparen. Dazu noch ein Eis für die Kinder - das ist nicht drin.

Für Michels neues Zimmer würden die Eltern gern einen Schreibtisch kaufen, damit er in Ruhe seine Hausaufgaben machen kann. Und Winterkleidung. Und einen Schrank. Einen Kicker nicht, dafür ist kein Platz. Wo jetzt noch Michels Bett steht, könnten auch Schreibtische für die Mädchen hin, mit rosa Lampen drauf. Die wünschen sie sich. Frau B. streicht ihrem Ältesten übers Stoppelhaar. "Weißt du", sagt sie, "es gibt Menschen, die haben mehr Platz als wir und sind trotzdem unglücklicher." Sie bete nur für eines: "Dass unsere Kinder gesund bleiben und mal eine bessere Zukunft haben."

Der Optimismus, den Jelena B. sich bewahrt hat, scheint heutzutage rar geworden zu sein. Elfriede Seus-Seberich leitet seit 30 Jahren das SOS-Beratungszentrum in Berg am Laim. In den Jahren des Aufschwungs hörte sie oft von den Eltern, wenigstens die Kinder würden es mal schaffen. "Und viele haben sich wirklich aus einfachen Bedingungen hochgearbeitet", sagt die Pädagogin und Psychologin. Heute hätten Kinder aus armen Familien wesentlich schlechtere Startbedingungen als noch vor ein paar Jahren. Ein Missstand, für den Seus-Seberich Hartz IV mit verantwortlich macht: ein Gesetz, in dem Kinder keine eigenen Rechte hätten, lediglich "Anhängsel der Bedarfsgemeinschaft" seien. "Hier wird nur gefordert, nicht gefördert!"

Vor Hartz IV standen den Kindern von Sozialhilfeempfängern eigene Leistungen zu: Geld für die Erstausstattung bei der Einschulung, Geld für dicke Jacken und feste Schuhe im Winter. Heute müssen die Eltern vom Pauschalbetrag etwas zur Seite legen, wenn eine Anschaffung, ein Schulausflug für das Kind ansteht. Das aber funktioniert in der Praxis kaum. Was nach Seus-Seberichs Erfahrung nicht unbedingt daran liegt, dass die Eltern schlecht haushalten. "Das Geld ist einfach zu knapp bemessen." Von bundesweit geltenden Sätzen im teuren München zu leben, sei nahezu unmöglich, sagt Seus-Seberich. Jede Teuerung - bei Brot, Käse, Strom - lasse die Eltern verzweifeln. Das Geld reiche nur dazu, die Kinder satt zu bekommen, nicht, sie gesund zu ernähren. Geschweige denn für Ausflüge oder gar Musikunterricht. "Da ist ein Webfehler im Gesetz."

Viele Eltern, die zu ihr in die Beratung kommen, sind nun doppelt deprimiert: Weil sie staatliche Hilfe in Anspruch nehmen müssen und zugleich merken, dass es bei allem Strecken zur Decke nicht reicht für die Kinder. Diese wiederum erleben ihre Eltern als "vom Lebenskampf erschöpft", wie Seus-Seberich es ausdrückt. Am ärgsten trifft es alleinerziehende Mütter, die zum Spottlohn bei Billigketten arbeiten - in ständiger Angst um ihren Job, spät heimkommend, weil sie Schicht haben oder Überstunden als selbstverständlich vorausgesetzt werden. "Viele dieser Einzelkämpferinnen klappen irgendwann zusammen", sagt die Beraterin. Manche werden aggressiv. Die meisten depressiv, lethargisch. Sie parken ihre Kinder vor dem Fernseher, schaffen es mit Mühe, ihnen einen Teller Nudeln mit Ketchup vorzusetzen. "Tantalos-Syndrom" nennt die Psychologin das, nach jener Figur aus der griechischen Mythologie, die die Götter dazu verdammten, durstend im Teich zu stehen, in dem das Wasser versiegte, sobald er "sich bückte, die Zunge zu kühlen".

Keine Delfine

Für die rund 19.000 Kinder in München, die am Existenzminimum leben, heißt das: Sie sind umgeben von Reichtum und kommen nicht heran. Die 13-jährige Nicole erlebt das täglich. In dem Stadtteil, in dem sie aufs Gymnasium geht, wohnen alle Mitschüler im eigenen Haus. Nicole lebt mit ihrer Mutter in einer Genossenschaftswohnung mit gemütlicher Dachschräge, selbstgemalten Bilder an den Wänden. Und doch hat Nicole nur ihre beste Freundin nach Hause gebracht. Damit die Mitschüler nicht merken, wo sie wohnt, nimmt sie jeden Morgen einen Umweg in Kauf. Ihrer Mutter treibt es Tränen in die Augen, als Nicole davon erzählt. Sie hat eine Arbeit, die sie mag, verdient dabei aber so wenig, dass sie knapp unter dem vom Staat zugestandenen Existenzminimum liegt. Vom Zelturlaub mit der Tochter träumt sie. Während Nicole erzählt, dass die Klassenkameradinnen Urlaub im Fünf-Sterne-Hotel machen und ihr nach den Ferien vom "Schwimmen mit Delfinen" vorschwärmen. Wenn die anderen Mädchen zum Shoppen in die Innenstadt fahren, redet Nicole sich raus: "Wir haben schon was vor." "Das sind alles nette Leute", sagt die Mutter, "aber sie denken nicht dran, wie sie andere unter Druck setzen, wenn ihr Kind 50 Euro Taschengeld bekommt." Nicoles Mutter ist es schon schwer gefallen, das Französisch-Vokabelheft samt Übungs-CD zu kaufen. Freiwillig sei die Anschaffung, hieß es an der Schule. "Aber wenn ich es nicht kaufe, gerät sie ins Hintertreffen." Einen Computer braucht Nicole nun für Hausaufgaben und Referate. Die Freundinnen haben längst einen eigenen im Zimmer stehen, zusätzlich zu dem der Eltern.

Auch Violina hat ein Problem. Es ist mit weniger Geld in den Griff zu bekommen, für ihre Mutter aber mindestens so unüberwindlich. In der Schule werden sie bald Schwimmen gehen - doch die Elfjährige besitzt keinen Badeanzug. Zwei Drittel des Monats sind erst rum. Ihre Mutter aber musste gerade 20 Euro von der Nachbarin leihen, damit sie Lebensmittel einkaufen kann. Violinas jüngere Brüder, fünf und acht Jahre alt, sitzen im Wohnzimmer, essen, während der Fernseher läuft. Später wechseln sie in Violinas Zimmer, laden sich am PC Spiele herunter. "Nichts Gewalttätiges", beteuert die Mutter. Nur Superhelden.

Im Mädchenzimmer steht der einzige Schreibtisch, ansonsten ist die Wohnung so gut wie leer. Vor vier Jahren hatte ein Feuer, ausgelöst wohl durch einen defekten Kassettenrekorder, fast die komplette Einrichtung der Familie F. zerstört. Die Versicherung beglich den Schaden bei den Nachbarn. Tara F. und ihren Kindern aber blieb nur die leere Wohnung. Nachbarn sammelten Kleider, als die Familie aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Eine Freundin gab ihr altes Bett. Von der Küche und dem Sofa, das die Familie sich einige Jahre vor dem Brand angeschafft hatte, blieb nichts außer Ratenzahlungen übrig.

Tara F. sorgt allein für die Kinder. Von ihrem Mann hat sie sich getrennt. Er habe sie geschlagen, es sei einfach nicht mehr gegangen, sagt die Frau. Ihre Eltern stammen aus der Türkei. Sie ist in München geboren, wurde mit 17 verheiratet, mit 18 das erste Mal schwanger. Heute noch hält ihre Familie zu ihm. "Ich schaff' das alles nicht mehr", klagt Tara F. Violina ist inzwischen ins Wohnzimmer übergesiedelt, weg von den beiden Jungs.

Als der Papa noch da war, sei die Familie auch mal gemeinsam schwimmen gegangen, erzählt sie. Im Dantebad, im Nordbad. "Aber diesen Sommer waren wir gar nicht im Bad." Was sie an den Wochenenden macht? "Mich langweilen", sagt die Elfjährige mit den hübschen, wachen Augen. Mit den Mädchen im Hof könne sie nichts anfangen. Die tragen hohe Absätze und sprechen nur über Jungs. Violina interessiert das nicht. Sie möchte Basketball spielen, vielleicht im Verein. Und mit der Mutter mal in den Zoo gehen. Oder ins Kino, und dort gemeinsam lachen.

© SZ vom 01.12.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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