Absturzkneipen:Lieber spät trinken als früh aufstehen

Und es gibt sie doch: Münchner Kneipen, in denen man versumpfen kann - eine nüchterne Betrachtung.

Wolfgang Görl

Spät ist es geworden. Verdammt spät. Keine U-Bahn fährt mehr, die S-Bahn auch nicht. Aber hier, in der Fraunhofer Schoppenstube, ist es warm, notfalls gäbe es was zu essen, und ganz gewiss wird man an diesem Ort nicht verdursten.

Absturzkneipen: Der richtige Platz für Rudi

Der richtige Platz für Rudi

(Foto: Heddergott)

Also der richtige Platz für einen wie Rudi. Ach Gott, der Rudi! Der hat einen harten Abend hinter sich, aber jetzt ist er erstmal eingetaucht in das Meer von Tönen, das aus Werners Quetsche durch den Raum schwappt.

Die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da. Werner singt das mit jenem zart-ranzigen Schmelz, den man sich in tausend durchzechten Nächten erwirbt, die ebenfalls nicht zum Schlafen da waren.

Rudis Blick geht ins Leere, oder vielmehr dorthin, wo er immer hingeht, wenn ein Schifferklavier ertönt: zu fernen Gestaden hinterm Horizont, zu tropischen Häfen, wo die Schönen auf einen Kerl wie ihn warten und die Säufersonne niemals untergeht. Melancholie, Sehnsucht nach dem ganz anderen Leben. Ein Schiff ist nicht nur für den Hafen da.

Wirklich, war'n harter Abend für Rudi: Das edle Essen mit der netten Kollegin, ganz schön teuer war das, dann in die Bar mit ihr, wo er drei Piña Colada spendiert hat, und kaum hat sie die getrunken, ruft sie ein Taxi und ist weg.

Ein paar Feuchtbiotope

Und Rudi steht da. Allein. Um zwei Uhr nachts in München. Eine aussichtslose Lage, wo doch bekannt ist, dass in der Landeshauptstadt nach eins Bettruhe herrscht.

Stimmt aber nicht. Noch gibt es ein paar Feuchtbiotope, in denen Nachtaktive unbehelligt von Polizeistunde und anderen Schikanen versumpfen können.

Die Frauenhofer Schoppenstube ist so eines. Um drei Uhr ist Sperrstunde, aber das nehmen die nicht immer so genau. Überhaupt pflegt man hier eine gewisse Libertinage, die so weit geht, dass Gäste neben dem singenden Wirt Position beziehen und in dessen größte Hits einstimmen. "Kriminaltango" zum Beispiel.

Und sie tanzten einen Tango, Jacky Brown und Baby Miller... Wahrscheinlich beherrscht Werner alle Lieder, die ins Weltkulturerbe eingegangen sind, darunter den Sechzger-Marsch oder "Komm mit nach Varazdin", wobei Letzteres im Duett mit Wirtin Gerti vorgetragen wird.

Einmal, erzählt Rudi, war der Laden so voll, dass er gleich wieder gegangen ist. Gerti ist ihm bis auf die Straße hinterher gelaufen, um ihm wenigstens einen Schnaps zu spendieren. So leicht kommt man hier nicht weg.

Nur heute ist es wie verhext. Niemand hält Rudi auf, als er das Lokal verlässt. Wie es jetzt weitergeht? Für Rudi gar nicht mehr. Er fährt nach Hause, another lonely night in Munich.

Trauben vorm Tresen

Schön blöd, wo doch gerade im Fischer-Stüberl in der Lindwurmstraße die Spezialität des Hauses serviert wird: Dampfend kommen bergeweise Miesmuscheln aus der Küche, teils in Wurzelsud, teils in pikanter Knoblauchsauce.

Der tunesische Kellner Ben, von dem es heißt, er koche "einen Super-Schweinsbraten", kämpft sich mit den Tellern in der Hand durch die Menschentraube vorm Tresen.

Endlich, der Dschinghis-Khan-bärtige Typ in der Lederjacke wartet schon auf den Muschelberg, ebenso die leicht verblühte Königin der Nacht, die vor einer Viertelstunde hereingeschneit ist. Der Koch jongliert in der Küche mit Pommes frites, Bratwürsten und Spareribs.

Der Mann hat ein aufmunterndes Wort verdient: "Wahnsinn heute!" "Es ist immer der Wahnsinn", sagt er und legt eine "Superzarte Rinderlende vom Agnus Beef" zu Dreizehn Euro sechzig auf den Grill.

Es ist ein Jammer, dass Rudi so früh die Segel streichen musste. Hier hätte er wunderbar seinen Fletcher-Christian-Träumen nachhängen können. Fletcher Christian? Das war der Meuterer auf der Bounty, der unbedingt zurück wollte zu seinen Südsee-Elfen.

Unter der Decke des Fischer-Stüberls hängen weißgottwieviele Schiffsmodelle, die schönen alten Karavellen und Dreimaster, die Seebären wie der Bounty-Käptn Bligh über die Meere manövrierten. Jetzt, um vier Uhr, umwölkt Zigarettenqualm die Schiffe, so dick wie der Nebel um Kap Horn.

Das geerbte Wirtshaus

Wenn man genug Pils getrunken hat, sieht es aus, als würden sie wirklich auf hoher See schippern. Aus dem Lautsprecher quäkt Bob Dylan das Motto der Nacht: Hey! Mister Tambourine Man, play a song for me, I'm not sleepy and there ain't no place I'm going to...

Tschuldigung, Bob. Es gibt doch einen Platz für schlaflose Nächte: das Fischerstüberl.

Hier gibt es keinen Türsteher, hier darf jeder rein. Der Vorstadt-Desperado, der an der Theke mit der Schwerkraft seiner Augenlider kämpft, ebenso wie der Herr Abteilungsleiter, der in einer diskreten Ecke den letzten Versuch macht, die Sekretärin von seinen Qualitäten zu überzeugen.

Und auch die Taxifahrer, die nach der Nachtschicht eine Gulaschsuppe löffeln: Die kommen, die haben Hunger, es muss schnell gehen. Manchmal geht es so turbulent zu, dass Heribert Kandler seinen Platz am Tresen verlässt und in der Küche aushilft.

Kandler ist der Wirt des Fischer-Stüberls. Man muss das so deutlich sagen, weil sein Äußeres - fein gestreiftes Hemd, Goldrandbrille - eher den Schluss nahe legt, dass seine Anwesenheit einem ganz dummen Zufall zu verdanken ist und er ansonsten das grundsolide Dasein eines Bank-Prokuristen führt.

Eigentlich wollte Kandler ja Lehrer werden, aber dann, 24 Jahre ist das her, hat ihm eine Großtante das Lokal vermacht. Ganz in der Nähe hatte sie noch ein Fischgeschäft, was die insgesamt ozeanische Ausrichtung des Fischer-Stüberls erklärt.

Sie erkennen sich am Stallgeruch

Kandlers unermüdlichem Wirken ist es zu verdanken, dass die Sperrstunde immer weiter gen Morgen rückte und das Fischer-Stüberl zu einer Zufluchtsstätte für alle wurde, die den neuen Tag am liebsten mit einem Bier in der Hand begrüßen. Das sind nicht wenige, und die erkennen sich am Stallgeruch.

Besonders unter den Männern herrscht ein Hang zu kumpelhaftem Körperkontakt, weshalb Begrüßungen selten ohne Schulterklopfen oder tapsige Umarmungen abgehen. "Wir haben hier viele Stammgäste", sagt Kandler. Ja, auch die drei, die gerade hereinkommen, sind amtsbekannt.

"Hock di her, Mädel", sagt der eine mit ausgesuchter Courtoisie. Das Mädel dürfte die fünfzig schon vor einiger Zeit überschritten haben.

Eigentlich müsste man bleiben. Warten, bis draußen der Tag anbricht, und weiterhin Bob Dylan zuhören: Hey! Mister Tambourine Man, play a song for me, in the jingle jangle morning I'll come following you...

Right, großer Meister, es ist jetzt wirklich Morgen, ein Münchner jingle jangle morning, und draußen ist eine Amsel zu hören oder ein Star, wer weiß das schon. Der Weg vom Fischer-Stüberl zum Lamm's am Sendlinger Tor dauert zu Fuß fünfzehn Minuten.

Es ist jetzt halb fünf. Aber eigentlich ist es egal, wann man ins Lamm's geht. Es hat immer offen, jeden Tag 24 Stunden. Wer aber zu so früher Stunde das Gewölbe unter dem ehrwürdigen Filmtheater betritt, hat gute Chancen, Rainhold Blümlein an der Bar sitzend anzutreffen.

Blümlein ist seit acht Jahren Geschäftsführer des Lamm's, ein Mann, der von sich selbst sagt, dass "er tagsüber nicht arbeiten kann", und der es zum Glück auch nicht muss.

Männer mit Rasierwasser-Grandezza

Seit 35 Jahren ist er im Nachtgeschäft tätig. Vermutlich geht man dabei entweder vor die Hunde oder man entwickelt eine irgendwie Rasierwasser-getränkte Grandezza, wie sie Blümlein zu eigen ist.

Zwei dicke Ringe zieren die Finger, die Krawatte ist etwas zu grell, um dezent zu sein, das Jackett von der Sorte, wie sie bei Moshammer in der Auslage hängen. So einer weiß Bescheid über das, was läuft zwischen null und sechs Uhr: "In puncto Nachtleben ist München ein Dorf. Die Leute hier sind nachts im Bett."

Alle aber auch nicht, sonst könnte er gleich dicht machen. Immerhin hat er 300 Plätze zu füllen, der Koch möchte seine österreichisch-bayerischen Spezialitäten (Wiener Kutscherpfandl oder, klar, Schweinsbraten) auf den Tisch bringen, die Kellner, die Spüler, alle kosten sie Geld.

Kommt aber auch was rein, gerade jetzt, kurz vor fünf. Die drei reich dekorierten jungen Frauen zum Beispiel und ihr strizzihafter Begleiter: "Die arbeiten im Kunstpark, New York Bar", raunt Blümlein. Und mit hochgezogener Braue fügt er hinzu: "Tabledance!"

Er kennt sie alle. Kennt die Schankkellner, die nach der Sperrstunde ihres Lokals noch ein Bier trinken; kennt die Bedienungen, das Küchenpersonal, die Wirte. "Sechs oder sieben sind im Moment da", verrät Blümlein stolz.

Da federt auch schon Heribert Kandler herbei, der vorzeitig von Bord seines Fischer-Stüberls gegangen ist. Schnell noch einen Drink, ehe es in die Koje geht. Hier will keiner mehr einen draufmachen. Bloß nicht wieder Allotria!

Die Damen und Herren möchten ihre Ruhe. Bei Kerzenlicht am Tisch. Let me forget about today until tomorrow, würde Dylan singen.

Halb sechs, die Nacht geht zur Neige. Wer jetzt keinen Rausch hat, findet keinen mehr. Im Treppenhaus des Lamm's hängen Fotos der unverwüstlichen "Drei Lausbuben aus der Wiener Rutsch'n".

Sprühende Spannung liegt in der Luft

Ihr mit Schmäh, Herrenwitzen und allerlei Nonsens gefülltes Programm war vor dreißig, vierzig Jahren eine große Nummer in München. Inzwischen sind die Lausbuben allesamt über siebzig Jahre alt, doch noch immer sind sie im Lamm's zu hören. Was ein echter Komiker ist, der kämpft bis zum letzten Witz.

Nahe dem Viktualienmarkt, in der Prälat-Zistl-Straße, hat Ursula Frischhut Punkt fünf Uhr die Schmalznudel aufgesperrt. An ihren Tischen, bei Kaffee und Schmalzgebäck, treffen die letzten Nachteulen auf die frühen Vögel des Tages.

Rund hundert Jahre gibt es das Café schon. Früher, sagt Ursula Frischhut, früher, als der Viktualienmarkt schon um sechs Uhr öffnete, gingen hier die Händler ein und aus.

Heutzutage ist es eher ruhig um diese Zeit. Ein Zeitungsleser isst seine Wiener Würschtl, zwei Männer hocken schweigend vor der Kaffeetasse, ein Paar flüstert und flüstert.

Zeit, die Nacht zu bedenken: Abgesehen von Rudis Missgeschick, das wirklich traurig stimmt, darf der Verlauf als glücklich gelten. Man weiß ja, wie gefährlich das Nachtleben sein kann.

Hat nicht Werner davon gesungen? Ja, hat er. Kriminaltango in der Taverne, dunkle Gestalten, rote Laterne. Abend für Abend lodert die Lunte, sprühende Spannung liegt in der Luft. In München kann das nicht gewesen sein.

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