Abschied: Chris Dercon:Nicht paniken, er hat alles under control

Ein Schelm, ein Kunstverführer, ein Freund: Beim Abschiedsfest für Chris Dercon im Haus der Kunst feiern die Münchner einen Mann, den sie ins Herz geschlossen haben.

Christian Mayer

Wer weiß schon, ob dieser Chris Dercon nicht doch alle zum Narren gehalten hat, ob seine belgisch-deutsch-englischen Sprachkapriolen nicht reines Kalkül waren, das Gesellschaftsspiel eines Schelms, dem die Münchner Gesellschaft zu Füßen lag. Man könnte diesen Verdacht haben, an diesem Abend im Haus der Kunst, als die typischen Dercon-Sätze, Versatzstücke aus kryptischen E-Mails oder ausufernden Reden, noch einmal eingespielt werden - sie laufen in Endlosschleife an der Wand. "Ich muss Jesus anrufen." "Bitte nicht paniken, ich habe alles under control." Oder diese schöne Regung: "Ich bin erböst!"

Abschied: Chris Dercon: "Das Haus der Kunst war nicht ich, das sind wir alle": Chris Dercon am Samstagabend im Haus der Kunst.

"Das Haus der Kunst war nicht ich, das sind wir alle": Chris Dercon am Samstagabend im Haus der Kunst.

(Foto: Robert Haas)

Erböst müssten die Gäste im Westflügel des Museums sein, denn die Ära Dercon ist nach acht Jahren zu Ende. Das ist schlimm für seine Fans, aber so sind die Regeln; selbst die beste Party kann nicht ewig dauern. Die Freunde des Hauses der Kunst haben deshalb ein Abschiedsfest organisiert, bevor der 52-Jährige seine Sachen packt und nach London zieht, wo er dann die Tate Gallery leitet.

Chris Dercon zählt zu den wenigen Menschen, die eine vollkommen natürliche Lockerheit verbreiten; selbst Kulturbetriebsmenschen und Großbürger wirken in seiner Gegenwart irgendwie entspannter, elastischer. Wer von ihm geduzt wird, und das sind allein in München schätzungsweise 2000 Sympathisanten, fühlt sich besser, obwohl es durchaus Mitarbeiter am Haus der Kunst geben soll, die auch einen anderen Dercon erlebt haben, einen chaotischen, aufbrausenden Impresario, der vor wichtigen Eröffnungen mit seinen Getreuen durch das Chefzimmer tanzt und singt: "There's no business like show business."

Natürlich dient ein solcher Abend der Legendenbildung. Legendär waren schließlich die großen Ausstellungen über Paul McCarthy, Herzog und de Meuron, Christoph Schlingensief, Andreas Gursky, Gerhard Richter, Ai Weiwei. Überlebensgroß erscheint der Hausherr auf den eingespielten Fotos und in den Berichten. Charles Schumann sieht aus, als sei gerade seine Bar am Hofgarten bis auf die Grundmauern abgebrannt: "Ich bin todtraurig, Chris Dercon war einer der wenigen in München, die international waren." Der Filmemacher Alexander Kluge fasst sich kurz: "Er ist ein Verführer, der immer das Ganze umspannt." Kunstminister Wolfgang Heubisch wirkt wie ein Groupie: "Er hat mein Kunstverständnis erweitert, er hat die Welt nach München geholt, das war grandios."

Und so geht das weiter. Dercon muss grinsen, vor allem, als eine blonde Dame, die dem Idealbild der bildersammelnden Bogenhausener Kulturhedonistin recht nahe kommt, auf offener Bühne bekennt: "Als Frau war man bei ihm schwer in Versuchung." Als dann noch Kurator Ulrich Wilmes, einer der besten Dercon-Versteher überhaupt, seinen Chef als "sehr, sehr, sehr männlich" beschreibt, ist man geneigt, alles Mögliche zu vermuten. Aber der Umschwärmte verrät, dass er just am Freitag seine Lebensgefährtin, die Münchner Galeristin Sonja Junkers geheiratet hat, dem KVR sei Dank - auch dafür gibt es viel Applaus.

Wer sich so verabschiedet, muss mit Geschenken rechnen. Dercon bekommt unter anderem eine überdimensionale Lampe, die höchstens in einer imperialen Villa in Chelsea Platz fände, außerdem gerahmte Bilder von seinen Lieblingen Gilbert & George, indische Hemden, jede Menge intellektuell klingende Bücher, eine Kunsttorte, eine massive Türklinke und einen schwarzen Schal mit dem Aufdruck "Sehnsucht". Die Modedesignerin Ayzit Bostan hat ihn als Abschiedsaccessoire entworfen, bald hat jeder im Saal einen schwarzen Schal um.

"Das Haus der Kunst war nicht ich, das sind wir alle", ruft Dercon aus. "Ich glaube an die Kollektivität, dafür muss ich vielleicht noch mal in die Politik gehen." Noch einmal Gelächter. Dann wird es still, als er seinen Fans ein Kompliment macht, das jeder sofort glauben möchte: "Ich gehe nicht gerne, denn in München gibt es viel echtere Kunstliebhaber als in London."

Auch die belgischen Fritten und die Currywurst sind nahezu echt, das Essen ist eine Hommage an den scheidenden Direktor, es gibt belgische Hausmannskost, zu der die Kunstschickeria Rotwein trinkt. Eine Ära ist zu Ende, der Schelm zieht weiter. Das ist traurig. Aber man kann ja auch mal für eine Ausstellung nach London fliegen.

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