Stromausfall in München:Anschlag auf den Autopiloten

Streik bei der Bahn, defekter Fernseher, ungebügelte Hemden: Für alles finden wir eine Lösung. Doch wehe, der Strom fällt aus - dann haben wir plötzlich ein Problem. Das liegt auch an uns selbst.

Tobias Dorfer

Es ist ja nicht so, dass wir uns nicht zu helfen wissen. Wenn die Bahn nicht fährt, nehmen wir das Auto. Wenn keine frischgebügelten Hemden im Schrank sind, ziehen wir einen Pulli an. Hat das Stammrestaurant Ferien, probieren wir die neue Pizzeria aus. Und wenn der Fernseher kaputt ist, schauen wir die Lieblingsserie eben in der Mediathek. Plan B nennt man das und eigentlich funktioniert dieser Plan B ganz gut. Zumindest solange nicht die Lokführer streiken und die Hemden nicht gebügelt sind und das Restaurant geschlossen hat und der Fernseher defekt ist. Dann heißt das nicht Plan B - dann heißt das Misttag.

München hat an diesem Morgen einen solchen Misttag erlebt. Technisches Versagen hat dazu geführt, dass 450.000 Haushalte in der bayerischen Landeshauptstadt etwa eine Stunde lang ohne Strom waren. Eine Stunde ohne Strom. Ein Drama? Zumindest ein Störfall. Das sieht an diesem Vormittag jeder, der die Berichte zum #Stromausfall auf Twitter verfolgt, die Anekdoten im SZ-Newsblog liest und in die Gesichter der Münchner S-Bahn-Fahrgäste schaut: Hier hat nicht nur die Steckdose 60 Minuten versagt. Hier ist mehr passiert. Und das haben wir zunächst uns selbst zu verdanken.

Unser Gehirn ist faul. Es liebt alles, was es kennt. Die unbewussten Handlungen. Die Gewohnheiten. Institutionalisierte Gutenachtküsse. Duschen bei exakt 40 Grad Celsius. Die Zeitung auf dem Schuhabtreter. Dunja Hayali im ZDF-"Morgenmagazin". Ehe wir es uns versehen, schaltet unser Gehirn auf Autopilot. Immer wenn diese Handlungsstruktur durchbrochen wird, bedeutet das für das Gehirn Stress. Und Stress mag das Gehirn gar nicht.

Insofern hat dieser stromlose Novembermorgen den Gehirnsynapsen der Münchner Bürger einiges abverlangt. Es fängt ja schon morgens an. Das Licht im fensterlosen Bad geht nicht. Zum Glück ist es draußen schon hell. Aber dann bleibt die Mikrowelle aus. Also gibt es heute keinen Tee und auch keinen Kaffee, weil dummerweise auch die Kaffeemaschine nicht ohne Strom auskommt.

Ein Blick aufs Smartphone. Akkuleistung: fünf Prozent. Reicht das für den Tag? Und überhaupt: Was ist da eigentlich los? Der Fernseher geht nicht, Internet, Radio - alles tot. Ein Anruf bei den Stadtwerken? Besser nicht. Der Handyakku ...

Also raus aus der Wohnung und zur Bank. Der Geldbeutel ist leer und die Kollegin hat erst vorgestern das Mittagessen teilfinanziert. Doch der Bankautomat funktioniert nicht. 290 der 530 SB-Geräte der Stadtsparkasse München sind an diesem Morgen außer Betrieb, lässt die Pressestelle ausrichten.

Am Odeonsplatz drängeln sich die Menschenmassen. Keine Bahn fährt. Also zurück. Aufs Fahrrad oder besser doch das Auto nehmen? Wobei: Die Ampeln sind ausgefallen, der Verkehr stockt, Polizisten müssen die Fahrer bändigen. Die erste Konferenz der Kollegen um neun Uhr zu erreichen, ist ohnehin unrealistisch.

Dann fahren die Bahnen doch wieder. Menschenmassen drängen hinein. Verspätungen. Wartende Menschen. Mürrische Gesichter. Schließlich im Büro eine strahlende Kollegin, die - obwohl in München-Schwabing wohnhaft - Strom hatte. Die sogar ihrem kleinen Sohn ein Ei kochen konnte. Und man selbst ist gestresst. Dabei ist der Arbeitstag nicht mal zwei Stunden alt.

Ein Morgen ohne Strom zeigt uns aber nicht nur, wie sehr wir in unseren Gewohnheiten gefangen sind. Er verdeutlicht auch, wie abhängig wir sind von Strom und Elektrizität. Dabei sind wir doch eigentlich frei wie nie. Dank Internet und Smartphone brauchen wir keinen Atlas mehr, um den Weg zu finden - wir nutzen Google Maps. Das Handy zeigt uns Fahrpläne und das nächste Schellrestaurant - wenn wir einen Termin nicht einhalten können, schicken wir von unterwegs eine SMS oder eine Message auf Facebook.

Doch diese Freiheit endet an der Steckdose. Ohne Strom sind wir nichts. Der häufigste Satz, der in ein Handy gerufen wird, ist wahrscheinlich: "Du, ich hab gleich kein Akku mehr ..." Und wer schon einmal mitverfolgt hat, welche Kämpfe um die wenigen Steckdosen in den Intercity-Zügen ausgefochten werden, denkt vielleicht doch noch einmal darüber nach, wie frei das mobile Internet tatsächlich macht.

Wo die Menschen von Strom nur träumen können

Eine viel gravierendere Erfahrung haben vor zweieinhalb Wochen die Bürger der USA gemacht, als Wirbelsturm Sandy über das Land fegte und ein Bild des Schreckens hinterließ. Menschen starben, Häuser wurden zerstört, Bäume stürzten und die New Yorker standen knietief im Wasser des Hudson River, der plötzlich den Weg zur Arbeit flutete. Wobei: Arbeit - daran wollte in den betroffenen Städten an diesen Tagen ohnehin fast niemand denken. Die Wall Street hatte Sandy-bedingt den Handel ausgesetzt und in den meisten Büros gab es sowieso keinen Strom.

So ein Stromausfall in der kalten Jahreszeit kann extrem unangenehm sein. Für die Millionen Betroffenen waren der Hurrikan und seine Folgen eine Katastrophe. Das illustriert ein Foto, das die Nachrichtenagentur Reuters in diesen Tagen verschickte. Es zeigt Brianna Mendez, Bürgerin der Vereingten Staaten von Amerika, wohnhaft in Staten Island, New York.

Handout of Mendez warms up by a fire outside her heavily devastated home in Staten Island, New York

Brianna Mendez vor ihrem von Wirbelsturm Sandy zerstörten Haus in Staten Island, New York.

(Foto: REUTERS)

Brianna Mendez sitzt vor ihrem zerstörten Haus, im Arm hält sie ein Versorgungspaket des Roten Kreuzes, in einem alten Reifen hat sie Feuer angezündet. Nachdenklich - und dick eingepackt - schaut sie in die Flammen. Wie zum Trotz hat sie an ihrem Haus die Stars & Stripes aufgehängt.

Das Chaos hat sie und Millionen anderer Amerikaner aus ihrem Alltag gerissen: Banker und Bettler, Arbeiter und Hausfrau. Im Fall von Sandy ging es nicht mehr primär darum, ob das Smartphone aufgeladen ist. Bei allem Leid: Vielleicht geben solche Krisenerfahrungen den westlichen Großstädtern zumindest ein bisschen den Blick aufs Wesentliche zurück.

Natürlich hatte der Hurrikan in Nordamerika (wo manche Haushalte selbst zwei Wochen nach dem Sturm noch ohne Elektrizität waren) verglichen mit einem knapp einstündigen Stromausfall in München eine völlig andere Dimension. Und doch eint die Beispiele etwas: Sie sind Kleinigkeiten im Vergleich zu dem, wie Menschen an anderen Orten der Welt leben.

In Venezuela, einem durch seine Ölvorkommen reich gewordenen Land, wird in Zeiten extremer Trockenheit immer wieder der Strom rationiert, weil die Wasserkraftwerke nicht mehr funktionieren. Und in den Townships von Kapstadt und in vielen Entwicklungsländern können die Menschen von Strom und fließendem Wasser nur träumen. Die Menschen leben damit. In Caracas, der Hauptstadt Venezuelas, geht niemand auf die Straße, wenn die Regierung über Wochen immer wieder den Strom abdreht.

Und in München? Da schimpfen die Fahrgäste, weil die U-Bahnen wegen des Stromausfalls erst nicht fahren und dann natürlich überfüllt sind. Wer schon einmal (nicht nur im Berufsverkehr) mit der Metro in Neu-Delhi gefahren ist oder sich in die völlig überfüllte U-Bahn von Peking gezwängt hat, kann darüber eigentlich nur müde lächeln.

Vielleicht sind an diesem Vormittag auch deshalb die asiatischen Fahrgäste am gelassensten. Sie blicken auf die gestressten Münchner, die an der S-Bahn-Station Leuchtenbergring aus dem Zug geworfen werden und auf den nächsten warten. Sie lachen und sie knipsen die griesgrämige Menge mit ihren Handykameras. Greetings from Munich. Strange people here.

Es wird Zeit, dass wir den Autopiloten wieder hochfahren.

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