Missbrauchsvorwürfe an Waldorfschule:"Es gab keine Anhaltspunkte"

Rudolf-Steiner-Schule

In der Waldorfschule in Schwabing soll ein Lehrer Schüler missbraucht haben.

(Foto: Jakob Berr)

Der Lehrer einer Schwabinger Waldorfschule soll sich an mindestens zwei minderjährigen Schülern vergangen haben. Im SZ-Gespräch verspricht der Schulsprecher nun eine transparente Aufarbeitung. Pädagogen und Eltern diskutieren über klarere Grenzen für das Verhältnis von Schülern und Lehrern.

Von Lars Langenau

Vor einer Woche wurde der Verdacht des sexuellen Missbrauchs durch einen Lehrer der Rudolf-Steiner-Schule Schwabing an minderjährigen Schülern öffentlich bekannt. Ingo Christians, 48, Sprecher der Waldorfschule sowie Lehrer für Mathematik und Philosophie, und Daniela Gräfin von Pfeil, 49, Schülermutter und Mitglied im Krisenteam der Schule, reden über Grenzen des Umgangs zwischen Lehrern und Schülern, über Lehren und Konsequenzen aus dem Fall, der die Schule erschüttert hat - und der noch längst nicht ausgestanden ist.

SZ: Anfang der Woche wurde ein ehemaliger Schüler der Odenwaldschule mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet. Für seinen Mut, als Betroffener über den Missbrauch an der reformpädagogischen Einrichtung zu berichten. Er beklagt vor allem das Schweigen, das er als Opfer erlebte. War Schweigen eine Antwort auch an Ihrer Schule?

Ingo Christians: Nein, nie. Als wir am 24. Juli das erste Mal von den erschütternden Vorwürfen hörten, haben wir uns sofort entschieden, das offen und transparent zu kommunizieren. Das war und ist für uns der einzige Weg, mit dem Verdacht umzugehen. Der Schutz der Kinder hat immer Vorrang.

Daniela Gräfin von Pfeil: Es gibt keinen Vergleich mit der Odenwaldschule. Dort gab es eine Systematik des sexuellen Missbrauchs, Eltern haben ihren Kindern nicht geglaubt, und es gab nie eine Anzeige. Das ist hier ganz anders. Wir gehen bis heute davon aus, dass es sich um einen Einzeltäter handelt.

Herr Christians, Ihnen war der Fall bereits eine Woche vor den Sommerferien bekannt. Sie haben umgehend reagiert. Aber wie kann es sein, dass die Schule dichtgehalten hat und monatelang nichts von den Vorwürfen an die Öffentlichkeit gelangt ist?

Christians: Wir haben Anzeige erstattet, nicht dichtgehalten. Intern haben wir auf völlige Transparenz gesetzt und mit Elternbriefen informiert. Dass wir die Kinder schützen wollten, dafür haben uns die Eltern auch gedankt. Wir wussten natürlich, dass das irgendwann in der Presse erscheinen würde, aber die Information der direkt Betroffenen war uns wichtiger als die einer breiten Öffentlichkeit.

Wie haben Sie reagiert?

Christians: Nachdem wir erstmals davon erfahren haben, haben wir am selben Tag den Kollegen suspendiert, ihm Hausverbot erteilt und ihn persönlich mit den Vorwürfen konfrontiert. In den folgenden Tagen haben wir juristische Beratung gesucht, Anzeige gestellt, die fristlose Kündigung ausgesprochen und das Kultusministerium als Schulaufsichtsbehörde informiert. Zugleich haben wir bereits am nächsten Tag in der betroffenen Klasse einen ersten Elternabend organisiert und externe Hilfe und Beratungsstellen eingebunden.

Wie verlief dieses Treffen?

Christians: Es war ein ergreifender Elternabend über drei Stunden. Vielfach wurde emotional berichtet, und die Eltern haben sich gegenseitig sensibilisiert für die Thematik. Manche wollten vorher überhaupt nicht glauben, dass das möglich gewesen sein könnte.

Der Lehrer, der die Schüler missbraucht haben soll, soll durchaus beliebt gewesen sein und die Kinder über Nacht zu sich in sein Haus eingeladen haben. Aber ist eine Übernachtung bei einem Lehrer noch pädagogisch zu begründen?

Christians: Wir haben ihm vertraut, die Eltern haben ihm vertraut. Es gab keine Anhaltspunkte, dass jemand misstrauisch werden konnte.

Grenzen zwischen Schülern und Lehrern

Wo sind die Grenzen des Umgangs zwischen Lehrern und Schülern?

Christians: Genau das fragen wir uns gerade. Bislang haben wir intuitiv entschieden, jetzt arbeiten wir an Leitlinien. Das Lehrer-Schüler-Gespräch auf dem Schulgelände ist völlig normal. Auch, dass man eine Klasse mal zu sich nach Hause einlädt zum Grillen oder so was. Das möchte ich auch in Zukunft nicht ausschließen. Schwierig wird es immer in einer Kleingruppe oder in einer Eins-zu-Eins-Situation. Aber auch dann kann ein persönliches Treffen außerhalb der Schule noch immer nötig und sinnvoll sein. Nur man muss es dann auch gegenüber Kollegen kommunizieren. Es geht jetzt tatsächlich auch darum zu definieren, wie viel Nähe nötig und wie viel Distanz zu wahren ist.

Also kann ein gemeinsamer Angelausflug in Ordnung sein?

Christians: Selbst ein privater Ausflug kann mit zehn, 15 Kindern in Ordnung sein, wenn wir Eltern mitnehmen oder Kollegen. Mittelpunkt des pädagogischen Wirkens muss jedoch die Schule sein, und kein Ort außerhalb.

Hat es Signale gegeben, die Sie nicht bemerkt haben?

Christians: Den Eindruck habe ich nicht. Natürlich kann man jetzt sagen, da hätte ich, hätten wir alle, aufmerksamer sein können. Aber der angezeigte Lehrer galt als wertgeschätzter Kollege und als erfahrener Pädagoge.

Melden sich jetzt auch Schüler, die längst aus der Schule raus sind und denen erst durch die Vorfälle ihre eigene Vergangenheit bewusst wird?

Pfeil: Wir sind hier erst am Anfang der Aufarbeitung, wissen nicht, was noch kommt, und haben auch keinen Einblick in die Ermittlungsakten.

Die Schule hat eine Hotline eingerichtet. Es ist Ihre Handynummer, Herr Christians. Was kann man mit Ihnen da besprechen?

Christians: Es besteht nach wie vor ein großes Informationsbedürfnis von Eltern und ehemaligen Schülern über alles, was die Schule betrifft. In solchen Fällen kann ich weiterhelfen. Möglicherweise auch mit Nummern von der Polizei und dem Kinderschutzbund.

In Berichten über sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlenen geht es auch um einen Begriff, den man als 'Distanz auf Armlänge' bezeichnen kann. Was halten Sie davon?

Pfeil: Wenn ein Kind etwa hinfällt und weint, dann muss man es trösten. Wenn wir da Abstand halten, ist das völlig ungesund. Als Mutter wünsche ich mir eine gesunde Nähe, ohne Angst, dass da gleich Verdächtigungen aufkommen, wir müssen alle auf sehendes Vertrauen setzen.

Christians: Ob ich ein Kind umarmen darf, wenn ich es tröste, möchte ich nicht in Regeln fassen. Die Kinder gehen schon selbst auf Distanz, wenn sie es nicht wollen. Das kann man nicht auf ein Alter festlegen. Nähe ja, aber es muss klar sein, dass das dann für alle gilt, nicht exklusiv ist. Trotzdem hat man körperliche Grenzen zu wahren.

Auch wenn das hier nur verkürzt geht: Was ist anders an einer Waldorfschule?

Christians: Die Entwicklung der Kinder und ihr Lernen steht bei uns in deutlicherem Zusammenhang. Unsere Schulgemeinschaft wird von Schülern, Eltern und Lehrern gemeinsam gestaltet. Wir sind eher Partner im Lernen, und es ergibt sich dadurch ein engeres Verhältnis.

Was kann man durch den Fall lernen? Wie Prävention betreiben?

Christians: Wir hatten schon immer Prävention und Aufklärung und konnten es trotzdem nicht verhindern. Deshalb ist der Vorfall ja auch so erschütternd. Hinschauen und schnelles Reagieren ist wichtig und richtig.

Sprechen Sie an der Schule auch darüber, was legitime körperliche Zuneigung, was sexueller Missbrauch ist?

Christians: Wir diskutieren gerade über Grenzüberschreitungen. Wann und wo sie anfangen. Eigene Grenzen kennt man ja für gewöhnlich. Die Schüler können und sollen klar sagen, was ihnen zu nah ist. Darauf müssen wir hören und uns entsprechend verhalten.

Wann, glauben Sie, kommt die Schule wieder zur Ruhe?

Christians: Eine gute Frage. Im Moment wissen wir es nicht. Das hängt auch mit dem Abschluss des Strafverfahrens zusammen. Erst dann ist klar, um welchen Umfang es sich handelt und dann zeigt sich, ob und wie wir wieder zur Ruhe kommen.

Ist Ihr offener Umgang damit auch der Wunsch nach einer Art Katharsis?

Christians: Es kann eine Chance sein, wir hoffen darauf und arbeiten daran. Manches wird nicht angenehm werden.

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